Dienstag, 30. November 2021

Kinski

Klaus Kinski wäre im November 95 Jahre alt geworden. Der Schauspieler war ein Zerstörer. Er zerstörte sich selbst, er zerstörte die Seele seiner Tochter Paola. Schon als 5-Jährige bis in Erwachsenenalter hinein soll er sie missbraucht haben, schrieb sie in ihrem Buch „Kindermund“  2013. Sein aufbrausendes, beleidigendes  Auftreten verstörte viele seiner Schauspielerkolleginnen und –kollegen. Aber auch vor seinem Publikum, Regisseuren und Journalisten machte er nicht Halt.

Seine Spielkunst, insbesondere in den Edgar-Wallace-Filmen in den 1960er-Jahren, wurde nicht angezweifelt.

Den Kunstdruck habe ich vor den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs gekauft. Danach abgehängt.

   

 



Montag, 29. November 2021

„Fahrradpolizei“

Der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC e.V.) hat die Polizei Essen mit ihrem historischen Dienstgebäude als fahrradfreundlichen Arbeitgeber ausgezeichnet. In dem denkmalgeschützten Präsidium an der Büscherstraße arbeiten rund 400 Landesbedienstete. Rund 15 Prozent davon kommen mit dem Rad zum Dienst. An ihrem Arbeitsplatz finden sie neu installierte Fahrradständer mit Parkraum für Lastenräder, einen Trockenraum, Ladestationen für E-Bikes sowie eine kleine Reparaturwerkstatt vor. 

Polizeipräsident F. Richter (2. von rechts) freut sich über die Auszeichnung

In Essen gibt es mittlerweile 17 fahrradfreundliche Arbeitgeber, betonte der Oberbürgermeister Thomas Kufen (3. von links) beim heutigen Pressetermin. Ebenso stolz äußerte sich Polizeipräsident Frank Richter, der durch eine fahrradfreundliche Infrastruktur an allen Polizeigebäuden den Anteil seiner radelnden Kolleginnen und Kollegen auf etwa 25 Prozent steigern möchte. 

Jetzt fehlt nur noch eine starke, aktive Polizeifahrradstaffel und der Verbleib im Polizeipräsidium, denn es wurden Auszugsabsichten öffentlich. 

Fahrradfreundliches Dienstgebäude - das Präsidium im Justizviertel


 

Sonntag, 21. November 2021

Gedenken

Heute ist Totensonntag, ein stiller Feiertag. Evangelische Christen denken an ihre Verstorben. Ich denke an einen ganzen jungen Kollegen.

Auf dem Foto rechts sitzt Andreas G. auf dem Funktisch der Polizeiwache in Essen-Steele. Hier war 1978 seine erste Station bei der Polizei als junger Polizeihauptwachtmeister. Andreas wurde nur 25 alt.
POLIZIST (25) IN DISCO ERSTOCHEN, hieß es Anfang der 1980er-Jahre in den Zeitungen. Hier kam es zunächst zum Streit mit einem anderen Gast, weil Andreas ihn unabsichtlich angerempelt haben soll. Es entwickelte sich ein Wortgefecht. Sein Kontrahent verließ die Disco, kam mit vier Freunden zurück. Sie gingen auf Andreas und seinen Freund los. „Sie drohten dem Polizisten erst mit Fäusten, dann blitzten Messer. Stiche in Brust, Bauch und Hals. Sein Freund wurde lebensgefährlich verletzt“, schreibt eine Zeitung.
Andreas - mit 25 Jahren aus dem Leben gerissen
 Vier der Täter konnten kurz nach der Tat festgenommen. Der fünfte wurde bundesweit gesucht. Der Ausgang des Strafverfahrens in mir nicht bekannt. Viele Kollegen unserer Wache nahmen an der Beisetzung in Kamen teil.
Ich habe als junger Wachdienstführer nur wenige Monate mit Andreas zusammengearbeitet. Er war ein ganz ruhiger, eher zückhaltender, netter Kollege. Sein Tod war für uns alle ein Schock.

Donnerstag, 18. November 2021

ALDI-Gründer Theo Albrecht vor 50 Jahren entführt

Vorwort: 

In polizeieigener Sprache wird die Entführung von Theo Albrecht, schon damals einer der reichsten Männer Deutschlands, im folgenden Artikel erzählt. Er erschien im Jahrbuch der Essener Polizei. Die kleineren kriminalpolizeilichen Fehleinschätzungen und Fahndungspannen bleiben natürlich außen vor und wurden nur in feuchtfröhlicher Runde und Bierlaune intern erzählt. Viele Kripobeamte antworteten später bei ihrer Pensionierung auf die Frage nach ihrem größten Fall: „Die Albrecht-Entführung.“ Die wenigen letzten Zeitzeugen halten sich mit ihren Erinnerungen immer noch diskret zurück. Heutzutage würde die Polizei viel professioneller den Kriminalfall bearbeiten. Die technischen, taktischen Möglichkeiten haben sich in fünf Jahrzehnten enorm verbessert. Spezialeinheiten existierten 1971 noch nicht. Damals: Die Einsatzleitung erfolgte durch Einsetzen einer Sonderkommission aus der Alltagsorganisation heraus.  Heute: Auf Knopfdruck würde einen BAO (Besondere Aufgabenorganisation) mit besonders geschultem PF (Polizeiführer) aufgerufen. Die folgende Schilderung muss deshalb mit dem Datumstempel 1971 versehen werden. 

Ich habe im Oktober des Jahres als junger Schutzmann und Oberwachtmeister in der Essener Innenstadt (Schutzbereich I) meine ersten unsicheren Polizeischritte unternommen. 18 Jahre alt, noch nicht einmal volljährig. Von der Albrecht-Entführung und den polizeilichen Maßnahmen rund herum haben wir auf der „Gerlingwache“ nichts mitbekommen. Denn auch intern hielt der damalige Polizeipräsident Hans Kirchhoff („Der blonde Hannes“), der sich als Berater einen Kriminalbeamten aus München holte, den Deckel drauf. 

Der Fall Albrecht (aus dem Jahrbuch der Essener Polizei 1971 ) - Autor unbekannt:

Misstrauisch - dennoch voller Verständnis blickten die auf der Kriminalwache anwesenden Beamten den aufgeregten Herrn (Anmerkung: ALDI-Rechtsanwalt) hinter der Wachtheke an, der unbedingt zu dieser Zeit noch den Polizeipräsidenten  persönlich zu sprechen wünschte, selbstverständlich  in einer äußerst dringenden und ebenso vertraulichen Angelegenheit. Als sich dann nach und nach herauskristallisierte, dass es sich tatsächlich um einen Fall handelte, für den es sich lohnte, die Leitung der Essener Polizei und Staatsanwaltschaft zu alarmieren, begann am 30.11.1971, gegen 00.40 Uhr, die Albrecht-Story, einer der spektakulärsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte.

Theo Albrecht (49) - mit diesem Foto geht die Polizei in die Öffentlichkeit

Tatsächlich begonnen hatte der Fall aber schon am Montag, 29. 11.1971, gegen 18.15 Uhr, in Herten, als der Essener Kaufmann und Millionär Theodor Albrecht beim Verlassen seines Firmensitzes gekidnappt wurde.

Eine 30köpfge Sonderkommission - in der Folgezeit durch drei Observationsgruppen aus Köln, Düsseldorf und Dortmund verstärkt - nahm sofort die Arbeit auf. Die zunächst eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen nach dem Auto des Entführten hatten bereits am nächsten Morgen Erfolg. Das Fahrzeug wurde in Gelsenkirchen-Buer gefunden. Zunächst musste man allerdings auf Zeichen von den Entführern bzw. dem Entführten warten. Noch in der Nacht der Entführung hatten sich die Kidnapper zum ersten Mal gemeldet.

Am 5. 12.1971 präsentierten sie schließlich ihre Forderung: 7 Millionen D-Mark in 100-, 500- und 1000-DM-Scheinen. Später wurde dann der Modus der Geldübergabe bekanntgegeben.

Am 7. 12. 1971 sollten der Anwalt des Entführten, sein Geschäftsführer, seine Frau und sein Sohn das Geld übergeben. Das ,,roch“ jedoch nach weiterer Geiselnahme, deshalb wurden Kriminalbeamte durch Maskenbildner hergerichtet, um anstelle der Angesprochenen das Geld übergeben zu können. Die Privatfahrzeuge der Familie Albrecht wurden außerdem mit versteckten Funkgeräten ausgerüstet. Die geplante Geldübergabe platzte jedoch, weil die Familie des Entführten auf Anraten der Kripo nur gegen gleichzeitige Freilassung der Geisel das Geld aushändigen wollte.

Bis zu diesem Zeitpunkt konnte die ganze Affäre geheim gehalten werden. Inzwischen hatte jedoch die Presse ,,Wind bekommen“. Zunächst konnte zwar ein Stillhalteabkommen getroffen werden, doch am 9.12.1971 erging schließlich Mitteilung an die Öffentlichkeit. Durch die Mithilfe der Bevölkerung hoffte man, dem Aufenthaltsort des Entführten näherzukommen. Die allzu große Betriebsamkeit der Presse verunsicherte die Täter, so dass es erst nach einigen Tagen zur neuen Kontaktaufnahme kam.

Am 16.12.1971 übergab der als Vermittler eingeschaltete Ruhrbischof Dr. Hengsbach im Raum Breitscheid bei Düsseldorf das Lösegeld und konnte dafür den freigelassenen Theo Albrecht zu seiner Familie zurückbringen. Als die Freilassung am nächsten Tag der Kripo und der Staatsanwaltschaft bekannt wurde, konnte der Fahndungsapparat voll anlaufen.

Vermittler und Lösegeldüberbringer Ruhrbischof Franz Hengsbach

Auch die Schutzpolizei war bis dahin nicht untätig gewesen. Rund um die Uhr standen besonders ausgerüstete und bewaffnete Einsatzeinheiten der Schutzpolizei bereit, um im Bedarfsfalle Straßensperrungen, Durchsuchungen und andere Maßnahmen durchführen zu können. Hervorgehoben zu werden verdienen auch die vielfältigen modernen technischen Mittel, die eingesetzt worden sind. Die kriminalpolizeiliche Erfahrung, dass bei Menschenraub und räuberischer Erpressung dem schnellen und sinnvollen Einsatz von fernmeldetechnischen Hilfsmitteln für die Sicherheit des Entführten und die Aufklärung der Straftat besondere Bedeutung zukommt, hat sich in diesem Entführungsfall erneut bestätigt. 

So stieg mit Beginn der ersten polizeilichen Maßnahmen der Fernsprech-, Fernschreib- und Funkverkehr enorm an. Allein die Ferngesprächeinheiten lagen gegenüber der vergleichbaren Zeit um 19 000 höher, und weit über 500 Fernschreiben mussten zusätzlich abgesetzt werden.

Bereits nach dem ersten Anruf der Entführer in der Wohnung Albrecht  wurde dieser Anschluss im Einvernehmen mit der Deutschen Bundespost auf „Fangschaltung“ gelegt. Alle weiteren Anschlüsse, auf denen Anrufe der Entführer zu erwarten waren, versah man mit Tonaufzeichnungsgeräten, um so die Voraussetzung für eine Täterstimmen-Identifizierung  zuschaffen. […] Die gemieteten schnellen Personenwagen mussten im Interesse eines zuverlässigen Informationsaustausches  mit improvisierten Polizeifunkanlagen ausgestattet werden.[…] Die Verwendung der vielfältigen Fernmeldemittel machte die Einrichtung einer technischen Einsatzleitung notwendig. […] Hierzu gehörten auch die Präparierung der verschiedenen Kraftfahrzeuge (für die Übergabe des Lösegeldes) und die Verwendung eines von München eigens eingeflogenen Minipeilsenders. […] Um auch für die im Münsterland langfristig eingesetzten Observationsgruppen eine zuverlässige Funkverbindung zu gewährleisten, wurde im Einvernehmen mit den zuständigen Behörden auf dem Longinusturm in Nottuln ein ortsfestes Funkrelais aufgebaut.

Rechts im Bild einer der Ermittler und späterer Leiter des 1. Kommisssariats Klaus Mannigel

Die kurzfristige Information aller Grenzübergangsstellen und Flughäfen war ebenso wichtig wie die Herstellung schneller Fernschreib- und Fernsprechverbindungen zum Bundeskriminalamt und nach Übersee.

Die Mithilfe von Tonträgern aufgezeichneten Täterstimmen haben – zweckentsprechend geschnitten und kopiert und über alle Fernseh- und Rundfunkanstalten im Bundesgebiet ausgestrahlt – zu entscheidenden Täterhinweisen und schließlich zur Festnahme des verdächtigen Krone geführt.

Ein Düsseldorfer Radiohändler hatte die Stimme eines Mannes wiedererkannt, der am Morgen des 18.12. bei ihm eine alte Schuld von 3400 DM beglichen hatte. Wie sich später herausstellte, stammten drei der 500-DM-Scheine, mit denen der Kunde bezahlt hatte, aus der Lösegeldsumme. 

Am 20.12. konnte Kron beim Verlassen seiner Zweitwohnung in Düsseldorf festgenommen werden.

Als Kron am 29.12. schließlich ein Geständnis abgelegte und den Düsseldorfer Rechtsanwalt Ollenburg als seinen Mittäter bezeichnete, waren die Ermittlungen soweit gediehen, dass die Anwaltspraxis bereits seit einiger Zeit beobachtet wurde. Bei der Durchsuchung am 29.12. war Ollenburg jedoch ausgeflogen; er hatte sich am Mittag mit seiner Freundin nach Mexiko abgesetzt. Noch am selben Tag gegen 20.15 Uhr nahm die mexikanische Polizei Ollenburg und seine Freundin im Hotel fest.

Theo Albrecht hatte inzwischen die Praxis von Ollenburg als Ort seines Zwangsaufenthalts wiedererkannt. Ollenburg kehrte am 1.1.1972 freiwillig zurück, er wurde am Kölner Flughafen festgenommen. Am 2.1. legte er ein volles Geständnis ab, das sich mit dem des Mittäters Kron deckte. Lediglich in Bezug auf den Verbleib des Lösegeldes widersprachen sie sich. Während Kron erklärte, aus der Summe nur 10.000 DM erhalten zu haben, behauptete Ollenburg, die Summe sei inzwischen redlich geteilt worden. Die Hälfte des Lösegeldes, mehr als 3 Millionen DM, ist inzwischen wieder aufgetaucht. 2,8 Millionen DM lagen in Waldgebieten bei Kaiserswerth und Recklinghausen vergraben, 200.000 DM gab ein Geschäftsmann zurück, der sie von Ollenburg erhalten hatte. […]

Kripobeamte - in der Mitte Jürgen Springen - zählen das ausgegrabenen Lösegeld

Die in der Sonderkommission tätigen Kriminalisten waren bis an die Grenze ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit im Einsatz. Sie haben dabei ein hohes Maß an Pflichtbewusstsein, Gewissenhaftigkeit und Verantwortungsfreude gezeigt, gepaart mit Findigkeit, Entschlusskraft und Durchhaltevermögen. Auf Beamte mit dieser berufsethischen Einstellung ist auch in Zukunft Verlass. Sie verdienen das Vertrauen von Staat und Bevölkerung. Schließlich durften auch andere Aufgaben nicht vernachlässigt werden. Die Betroffenen waren nicht zuletzt die Familienangehörigen dieser Beamten.

Für Weihnachtsvorbereitungen blieb kaum Zeit - wie sollte auch, bei normaler Dienstzeit plus zusätzlich mehr als 10 000 Überstunden? Deshalb gelangte dieser außergewöhnliche Fall auch auf außergewöhnliche Art und Weise zum. Im Rahmen einer feuchtfröhlichen ,,Dienstbesprechung“ im PSV-Heim löste der Behördenleiter (Anmerkung: Polizeipräsident Hans Kirchhoff) die Sonderkommission am 25. 3. 1972 auf und sprach ihr Dank und Anerkennung aus. Er stellte fest, der Fall Albrecht habe gezeigt, dass eine moderne Polizei nur erfolgreich zu arbeiten vermöge, wenn ihr ausreichende Hilfsmittel, die dem neuesten Stand der Technik entsprächen, zur Verfügung stünden. Er hob hervor, dass der Erfolg wesentlich durch das Verständnis und die Mithilfe der Familienangehörigen - besonders der Ehefrauen der Beamten - mitbedingt war. 
Zum Gelingen des Festes trugen sowohl der Entführte als auch Innenminister Weyer bei.

Anmerkung: 

Die beiden Entführer, Rechtsanwalt Heinz Joachim Ollenburg (damals 48 Jahre alt) und Autoschlosser und Einbrecher („Diamanten-Paule“) Paul Kron (damals 39 Jahre alt) wurden 1973 zu jeweils 8,5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Hälfte des Lösungsgeldes blieb für immer verschwunden. Theo Albrecht lebte nach seiner Entführung sehr zurückgezogen in seinem Stadtteil Bredeney, hielt noch lange Jahre nach dem Geschehen die Verbindung zur Essener Polizei und lud immer zu Weihnachten einige Ermittler zu ALDI-Kaffee und ALDI-Christstollen in seine Villa ein. 

Theo Albrecht starb am 24. Juli 2010 - Die Grabstätte der Familie auf dem Friedhof in Bredeney
 

Fernsehtipp: Der WDR zeigt am kommenden Freitag, 19.11.2021 in der Sendereihe „Herzflimmern“ eine Dokumentation der Entführung. Jetzt schon in der ARD-Mediathek:

https://www.ardmediathek.de/video/wdr-dok/die-aldi-entfuehrung/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTFlZDYwYTVkLTI3ZTMtNGZkMi05MGMxLTMzMzQ2Nzk4YzQ2NQ/

Buchtipp: „Auf den Spuren der Albrechts“ von Martin Kuhna (freier Journalist, ehemaliger WAZ-Redakteur und Polizeireporter). Erschienen im REDLINE VERLAG. Martin Kuhne gilt mittlerweile als „Albrecht-Experte“.

Freitag, 12. November 2021

1935 - Der Fenstersprung aus dem Essener Polizeipräsidium

Vorwort: Das Polizeipräsidium ist zurzeit in den Schlagzeilen. Die Polizei möchte aus ihrem Stammhaus  - erbaut von 1914 - 1918 -  umrahmt von der Hufeland-/ Virchow- und Büscherstraße auf den Stadtteilgrenzen Holsterhausen/ Rüttenscheid -  ausziehen. Als Grund wird Platzmangel angegeben. Es ist einer der wenigen großen Amtsgebäude in Essen, die den Bomben des 2. Weltkrieges leicht beschädigt standhielten und steht unter Denkalschutz. In einem früheren Aufsatz für den Rüttenscheider Heimatverein schrieb ich: „Wenn die Mauern erzählen könnten."

Ende der 1980er-Jahre lernte ich den Stadthistoriker Dr. Ernst Schmidt (Jahrgang 1924) kennen. Er recherchierte für sein Buch „Lichter in der Finsternis – Widerstand und Verfolgung in Essen 1933 – 1945“ und bat um polizeiliche Hilfe. Es ging um einen Vorfall aus dem Jahr 1935. Das  damalige Terrorregime verfolgte alle Bürger, die nicht ihrer Ideologie folgten. Sozialdemokraten, Kommunisten, Zeugen Jehovas, Sinti, Roma, Homosexuelle und vor allen Dingen Landsleute mit jüdischem Glauben. 

Gestapo, Kripo und Schupo arbeiteten eng zusammen. Wie auch in diesem Fall. Ernst Schmidt wollte wissen, aus welchem Fenster des Polizeipräsidiums der Kommunist Artur Müller vor seinen Peinigern im Januar 1935 sprang und flüchtete. Leider haben wir das nicht ermitteln können. Aus dem folgenden Text geht das Zimmer hervor. Raum 265 in der 2. Etage des Polizeipräsidiums.

Am Rande erfuhr ich, dass selbst der Autor und Historiker Dr. Ernst Schmidt beim damaligen 14. Kommissariat (heutiger Polizeilicher Staatsschutz), das direkt dem Polizeipräsident Dr. Max Bloser unterstellt war, aktenmäßig erfasst war. Denn er war nach dem Krieg Mitglied der Deutschen Kommunisten Partei (DKP) bis 1982, bevor er in die SPD eintrat.  Der gebürtige Borbecker hinterließ ein riesiges Archiv seiner wissenschaftlichen Recherchen und Dokumente aus der Essener Arbeiterbewegung.

Das „Haus der Essener Geschichte“ befindet sich heute an einem Platz, der seinen Namen trägt: Ernst-Schmidt-Platz. (Uwe Klein)

1935 - Der Fenstersprung aus dem Essener Polizeipräsidium

 von Dr. Ernst Schmidt

Pfingsten 1950 fuhr ich mit Gleichgesinnten zum 1. Deutschlandtreffen der Jugend nach Berlin. Dicht gedrängt saßen wir in einem Eisenbahnabteil und vertrieben uns die Zeit mit mancherlei Gesprächen. Neben mir saß Artur Müller, dem ich vorher schon hier und dort begegnet war. Die Gespräche verstummten, als er begann, einige Erlebnisse aus der Zeit des Faschismus zu erzählen. Unsere Ankunft am Ziel unserer Reise ließ mich jedoch bald schon wieder an anderes denken.

In den folgenden Jahren nahm ich mir immer wieder vor, mit Artur Müller nochmals über das zu sprechen, was ich bei der gemeinsamen Reise gehört hatte. Erst 25 Jahre später fand ich dazu die Gelegenheit. Ich erfuhr dabei mehr von dem Erleben des Mannes, dessen Erzählungen mich 1950 stark beeindruckt hatten. Seine erste politische Konfrontation erlebte Artur Müller im Januar 1923, als französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten. Ihre Anwesenheit gab auch in Essen manchen Anlass zu Auseinandersetzungen.

Er war Laufjunge bei Krupp, als am Karsamstag 1923 französischen Soldaten in der Altendorfer Straße dreizehn Krupp-Arbeiter erschossen. Am Morgen des Tages hatte eine Einheit der französischen Armee die Kraftwagenhalle der Firma Krupp in der Nähe der Hauptverwaltung besetzt. Herbeigerufen von heulenden Werksirenen, strömten später Tausende Krupp-Arbeiter zusammen.

Das lag ganz im Sinne der Firmenleitung, die lange vorher mit dazu beigetragen hatte, nationalistische Stimmungen in der Belegschaft zu wecken. lmmerhin lenkten solche Emotionen die Arbeiter von Lohnforderungen ab und machten sie außerdem zu einem Werkzeug des Konkurrenzkampfes, in dem sich deutsche und französische lndustrielle damals befanden. Beeinflusst von aufpeitschenden Redensarten, wuchs die Erregung der Demonstranten und mit ihr die drohende Haltung gegenüber den französischen Soldaten. Artur Müller stand mitten unter ihnen, als die Gewehrsalven abgefeuert wurden. Bis dahin hatte er dem kommunistischen Betriebsrat Josef Zander zugehört, der von einigen Kollegen hochgehoben — lautstark die Krupp-Arbeiter aufforderte, keine nationalistischen Losungen zu befolgen und sich nicht provozieren zu lassen. Als er sah, wie dieser dann von den Kugeln tödlich getroffen zur Erde sank, machte er kehrt und lief um sein Leben.

Kurze Zeit danach trat er dem Kommunistischen Jugendverband und später auch der Kommunistischen Partei Deutschlands bei. Aktiver antifaschistischer Einsatz machte ihn 1933 zu einem Verfolgten durch die neuen Machthaber. Mit Gleichgesinnten ging er deshalb außer Landes. Nach vorübergehendem Aufenthalt in Holland, Frankreich und im Saargebiet kehrte er am 6. Februar 1934 wieder nach Essen zurück. Sofort nahm er hier am organisierten Widerstand teil. Das ging gut bis zum 3. Januartag des Jahres 1935. Er war gerade auf dem Wege zum Treff mit einem seiner Genossen, als die Gestapo ihn in der Aachener Straße festnahm.

Rechts fehlt noch der im Krieg zerstörte Anbau - heutiger Westflügel

Ausführlich erzählte Artur Müller: „Schon die ersten Vernehmungen ließen mich fast verzweifeln. Nacheinander nahm mich ein Gestapo-Mann nach dem anderen vor. Ob es Albert Schweim, Richard Aurich, Heinrich Wientgen, Ernst Schröder, Fritz Vaupel oder Heinz Hasselbach waren. Sie und ihre Prügelknechte quälten mich erbarmungslos. Eines Tages vernahm mich Aurich wieder und legte mir ein Foto vor, auf dem ich den illegalen Bezirksleiter des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands im Ruhrgebiet erkannte. Mit ihm hatte ich in den letzten Monaten eng zusammengearbeitet. „Kennst du den?“ fragte er mich. - Schweigen! Dann Schläge. „Schau’ dir das Bild richtig an, und sag schon, ob du den Mann kennst?“ - Wieder Schweigen. - Wieder klatschende Schläge. Mit geballten Fäusten stand Aurich vor mir, sah mich wütend an und brüllte: „Mensch, Müller, gib zu, dass du den Mann kennst, und sage uns, wie er heißt‘. „Nein“, rief ich zurück und schwieg dann wieder. Aurichs Faustschläge trafen mich links und rechts hinter den Ohren. Ich fiel auf den Boden und sah über mir die hasserfüllten Augen eines menschlichen Scheusals. Hochgerissen und auf einen Stuhl gesetzt, hörte ich Aurich sagen: „Die Prügel hättest du dir ersparen können. Deinen Komplizen haben wir längst, gleich werden wir ihn dir vorführen, vielleicht wirst du dann gesprächiger.“ Kurz darauf öffnete sich die Tür, und ein Mann wurde ins Zimmer geführt. lm ersten Augenblick erkannte ich ihn nicht. Sein Gesicht war zerschlagen, beide Wangen blutunterlaufen, ein Auge vollkommen zu, das andere nur halb auf. Lediglich die Figur und das krause Haar überzeugten mich davon, dass es der Genosse war, den ich schon auf dem vorgelegten Foto erkannt hatte. „Jetzt wollen wir einmal hören, ob er dich kennt“, sagte Aurich und schritt auf mein Gegenüber zu. Eisernes Schweigen war auch hier zunächst die Antwort auf seine Fragen.„Dann muss ich ein wenig nachhelfen“, sagte die Bestie in Menschengestalt und schlug mit dem Ochsenziemer auf den Schweigenden ein. Mir schwollen die Adern, zugleich aber begriff ich die eigene Hilflosigkeit. Als mein grausam gefolterter Genosse dann unter den klatschenden Schlagen stockend und kaum verständlich sagte: „Ja, das ist Artur Müller, der mir bei der illegalen Arbeit geholfen hat“, da wusste ich, dass er längst nicht mehr zurechnungsfähig war. „Na, Müller, hast du gehört, was er gesagt hat?“, fragte mich Aurich, ließ dabei den Ochsenziemer kurz durch seine Hand gleiten und versetzte mir einen Schlag, der meine Schulter traf. Dann wollte er von mir wissen, was ich mit den bei mir angelieferten Flugblättern gemacht hatte. „Ich habe sie unter Haustüren geschoben und in Gärten geworfen“, antwortete ich und schwieg dann wieder. „Die Methode kenne ich, du willst nur deine Untergruppen schützen“, sagte er und fügte drohend hinzu: „Erst werde ich einmal den Kerl hier wegbringen, dann unterhalten wir uns weiter.“

Sekunden später stand ich allein im Zimmer. Aurich war mit meinem Genossen auf den Flur gegangen und hatte die Tür hinter sich verschlossen. Bald würde er zurückkommen. Da fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf und ließ mich sofort handeln. Mit einem Satz war ich am Fenster und stieß beide Flügel auf. Unter mir lagen noch zwei Stockwerke, ich aber sah vor mir immer nur den Ochsenziemer schwingenden Gestapo-Schlager. Nur weg von hier, dachte ich und zögerte nicht einen Augenblick. Meine Beine über die Brüstung schwingend, hing ich bald mit beiden Händen an der Fensterbank und ließ mich dann in die Tiefe fallen. Ein Ligusterbusch stoppte sanfter als der Erdboden meinen Aufschlag. „Du lebst ja“, ging es mir durch den Kopf, und ein Gefühl der Kraft berauschte mich. „Jetzt nichts wie weg!“ Ich befand mich im äußeren Hof des Polizeipräsidiums, der von der Straße durch ein etwa zwei Meter hohes Tor getrennt war. Unbemerkt lief ich zum Tor, sprang in die Höhe und erreichte mit den Händen den oberen Rand. Mich mit einem Fuß auf der Klinke abstützend, gelang es mir, das Hindernis zu überwinden. Augenblicke später lief ich die Straße entlang, bis zu einem offen stehenden Hoftor eines Wohnhauses. Wie ein gehetztes Tier rannte ich auf den Hof, um mich hier vor den Verfolgern zu verstecken.“

Dieser Fenstersprung und die Flucht Artur Müllers waren auch Inhalt eines Gestapo-Berichtes. Deutlich nüchterner in der Darstellung, diente er 1935 dem Verfasser Richard Aurich zugleich als Entschuldigung seiner Unachtsamkeit. Er habe am 8. Januar 1935 im Zimmer 265 einen Festgenommenen dem Müller gegenübergestellt. Als er danach diesen wieder abgeführt hatte, sei Müller in dem im zweiten Stockwerk des Hauses gelegenen Zimmer für einen Augenblick allein geblieben. Allerdings sei an dieser Stelle der Keller vollkommen frei ausgebaut gewesen, so dass man bei einer wirklichen Höhe von drei Stockwerken wohl kaum an die Ausführung eines Fluchtversuches habe denken können.

Nach diesem Versuch der eigenen Rechtfertigung  gegenüber seiner vorgesetzten Behörde schildert er den Fenstersprung und die gelungene Flucht seines Häftlings so: „Die kurze Zeit meiner Abwesenheit hat Müller benutzt, um aus dem Fenster zu springen. Er hatte insofern besonderes Glück, dass er auf eine Hecke und dann auf weichen Lehmboden aufgeschlagen ist, wodurch die Folgen des sonst wohl tödlichen Sprunges derart abgeschwächt wurden, dass Müller über ein etwa zwei Meter hohes Tor auf die Straße gelangen konnte. Er floh in der Richtung zur Virchowstraße und wandte sich dann zur Hufelandstraße. Von dort aus fehlt jede Spur des Müllers. Die sofort aufgenommene Verfolgung ist ohne Erfolg geblieben. Es wurde sofort Funkspruch an alle aufgegeben. Die Landratsämter Geldern, Cleve und Wesel und das Grenzkommissariat Kaldenkirchen wurden fernmündlich benachrichtigt. Briefsperre ist über die Eltern und die Braut verhängt.“

Als ich Artur Müller den Inhalt des Aurich-Berichtes vom 8. Januar 1935 vorlas, lächelte er und sagte: „Was da über meinen Fluchtweg niedergeschrieben wurde, ist aus der Luft gegriffen. Man nahm an, ich sei in Richtung Virchowstraße gelaufen, um von dort die Hufelandstraße zu erreichen. Das war aber falsch gedacht. lm äußersten Hof des Polizeipräsidiums befanden sich zwei Tore. Eines führte zu den angrenzenden Anlagen, das andere befand sich an der Virchowstraße. Ich bin über das Tor zu den Anlagen geklettert, weil das Auto, in dem man mich am Tage meiner Festnahme zum Präsidium gebracht hatte, durch das andere Tor in den Hof gefahren war. Dabei ist mir der dort stehende Polizeiposten aufgefallen. Als Aurich mich bei seiner Rückkehr ins Zimmer vermisste, hat er - wie ich später erfuhr - im ersten Augenblick seine Suche auf Akten- und Garderobenschränke im Raum konzentriert. Erst eine am Boden liegende Milchflasche - ich hatte sie vom Fensterbrett gestoßen - ließ ihn meinen Fluchtweg vermuten. Der Blick aus dem Fenster auf den durch meinen Aufschlag eingedrückten Ligusterstrauch verschaffte ihm Gewissheit.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich längst schon den Hof des Wohnhauses erreicht. Auch dort war kein Mensch weit und breit zu sehen. Durch eine offen stehende Tür gelangte ich in die Waschküche. Hier stand in einer Ecke ein Weihnachtsbaum. Kurzentschlossen verkroch ich mich in diese Ecke der Waschküche und hielt den Weihnachtsbaum schützend vor mir. Jetzt erst erfüllte mich ein Gefühl der Freude und Hoffnung. „Du bist den Bestien entkommen“, ging es mir durch den Kopf, und bestimmt habe ich dabei gestrahlt wie jemand, der in einer Lotterie den Hauptgewinn gezogen hatte.

Polizeisirenen auf der Straße, näher kommende aufgeregte Stimmen und das Läuten der Türglocke des Hauses ließen mich jedoch schlagartig wieder meine nahezu ausweglose Lage erkennen. „Jetzt haben sie dich wieder“, sagte ich mir und sah mich im Geiste wieder in einer Gefängniszelle. Ein wenig von Panik erfasst, wollte ich aufspringen und davonrennen, aber nahezu unerträgliche Schmerzen in den Beinen und im Rücken hinderten mich daran. Jetzt erst bemerkte ich die Folgen meines tollkühnen Sprunges aus dem Fenster. Die Füße waren dick geschwollen, und nur mühsam gelang es mir, mich aufzurichten. Erst nachdem ich meine Schuhbänder gelöst hatte, empfand ich ein wenig Erleichterung. Vorn übergebeugt und stark hinkend setzte ich die Flucht durch den Garten der Villa fort. Mein Äußeres war keineswegs einladend. Bei der Festnahme durch die Gestapo waren mir Hosenträger, Krawatte, Mantel und Kopfbedeckung abgenommen worden. Mit einer Hand die Hose haltend, wankte ich in den mir belassenen wenigen Kleidungstücken durch die Gegend. Irgendwie gelangte ich unmittelbar neben den damaligen Städtischen Krankenanstalten auf die Hufelandstraße (Anm.: heutige Universätsklinikum). Hier sah ich am Eckgeschäft auf der anderen Straßenseite einen Stangeneiswagen stehen. Heute im Zeitalter der Kühlschränke und Gefriertruhen ganz aus dem Straßenbild verschwunden, lieferten diese Wagen damals an Gaststätten, Hotels und Geschäfte mit verderblichen Waren die in Eisfabriken eigens für diesen Zweck angefertigten Stangen des gefrorenen Wassers. Der Eiswagen, den ich gegenüber den Städtischen Krankenanstalten stehen sah, gehörte Leo, einem Bekannten aus Frohnhausen, der damit die Kunden einer Essener Stangeneisfabrik belieferte. Neue Hoffnung auf ein Gelingen meiner Flucht erfüllte mich, als ich, die Straße überquerend, auf den Wagen zuwankte. In diesem Augenblick trat Leo aus dem Geschäft heraus, sah mich in meinem elenden, mitleiderregenden Zustand an seinem Wagen stehen und fragte besorgt: „Was ist mit Ihnen?“ – „Mensch, Leo“, sagte ich, schaute ihn an und bemerkte, dass er mich jetzt erkannte. „Wo kommst du denn her, Artur“, fragte er, und ich sah, wie sehr mein Aussehen ihn erschreckte. Was sollte ich sagen? Nun ja, ich kannte ihn, allerdings aber nur so gut, wie man den Nachbarn von nebenan kennt. Was ich aber nicht kannte, das war seine Einstellung zu den politischen Ereignissen seit dem Januar 1933. Darum konnte ich ihm unter keinen Umständen die Wahrheit sagen. Auf der Alfredstraße sei ich gestürzt, erzählte ich ihm. Das Fahrrad hätte ich untergestellt und mich zu Fuß auf den Weg gemacht. Mit der Zeit seien die Schmerzen unerträglich geworden. Sein Wagen käme mir darum wie gerufen. Nach dieser Erklärung stellte ich ihm konkret die Frage: „Leo, kannst du mich zur Suarezstraße bringen?“ – „Ist doch selbstverständlich“,  antwortete er sofort, öffnete ohne weitere Fragen die Beifahrertür, half mir in den Wagen und fuhr los.

In unmittelbarer Nähe der Suarezstraße wohnten die Eltern meiner Braut, zu ihnen wollte ich. „Mensch, Artur, geh bloß sofort zum Arzt“, riet Leo, als er mir kurze Zeit später aus dem Wagen half und danach seine Fahrt fortsetzte. Dankbar winkte ich ihm nach. Minuten später war ich bei Genossen. Sie brachten mich zunächst zu einer Familie in die Annastraße. Hier blieb ich die Nacht und den folgenden Tag. Nach einem Zwischenaufenthalt in der Goethestraße landete ich bei Genossen in der Windscheidstraße. Der Transport von einer Stelle zur anderen war äußerst schwierig. Nur unter riesigen Schmerzen konnte ich mich fortbewegen. Ein Fahrrad wurde eingesetzt, um die längeren Strecken zurückzulegen. Während ich auf der oberen Stange des Rahmens saß, schob man das Rad in den Abendstunden von einem Unterschlupf zum anderen. Irgendeiner hatte dann in Essen-Kupferdreh einen Arzt aufgetrieben, der mich in der Windscheidstraße untersuchte. Er schüttelte den Kopf, legte Verbände an, gab ärztliche Anordnungen und meinte, es sähe böse mit mir aus. Ständige Beaufsichtigung und Pflege seien unbedingt erforderlich. Da meine Quartiergeber beide berufstätig waren, musste man mich wieder anderswo unterbringen.

„Bei mir wird dich keiner finden, und wenn du fünf Jahre hier wohnen müsstest“, meinte Genosse Rudolf zu mir, bei dem ich in der Wienenbuschstraße Stunden später eine neue Bleibe fand. Hier glaubte ich nach den aufregenden Stunden der beiden letzten Tage endlich Ruhe zu finden. Tatsachlich folgte auch für mich eine ruhige Nacht.“

Essens Gestapo war inzwischen nicht untätig gewesen. Hier lief die Fahndung auf Hochtouren, zumal man bemüht war, die erlittene Blamage schnell wieder vergessen zu machen. In der Öffentlichkeit war die gelungene Flucht verschwiegen worden, um nicht noch mehr unnötigen Staub aufzuwirbeln. Der Zufall führte sie dann schließlich auf eine heiße Spur. Ein strammer SA-Mann hatte Artur Müller, den er in Haft wähnte, irgendwo mit einem ihm ebenfalls bekannten Begleiter auf der Straße gesehen. Stutzig geworden, erstattete er Meldung. Drohungen und Ochsenziemer taten ihr übriges, um hier und da Aussagen zu erpressen. Als Artur Müllers Genosse Rudolf dem Flüchtling sagte: „Bei mir wird dich keiner finden, und wenn du fünf Jahre hier wohnen müsstest“, da ahnte er noch nicht, wie eng die Gestapo bereits ihr Netz um seinen Schützling gezogen hatte.

Schon am anderen Tag standen dann die Häscher vor der Tür des Verstecks, um ihren entsprungenen Häftling wieder einzufangen. Die folgenden Einzelheiten der Ereignisse jenes Tages schilderte Artur Müller: „Nach einer Nacht mit erquickendem Schlaf wurde ich am anderen Morgen von der Frau meines Genossen Rudolf mütterlich behandelt und verpflegt. Auf dem Tisch neben meinem Bett waren allerlei für mich gedachte Sachen aufgestapelt: Obst, Kuchen, Gebäck, Rauchwaren und selbst ein wenig Geld. Ich fühlte mich wie ein Kind, das seine verlorene Mutter wieder gefunden hatte. „Hier hast du etwas gegen die Langeweile", sagte mein Quartiergeber und reichte mir ein Buch. „Zement“, las ich auf dem Buchdeckel. Mir fiel ein, dass ich Jahre zuvor schon einmal begonnen hatte, diesen interessanten Roman von Fjodor Gladkow zu lesen. Sofort machte ich mich daran herauszufinden, wie weit ich damals gekommen war. Während des Lesens ergriff mich die Müdigkeit. Das Buch beiseite legend, war ich dem Einschlafen nahe.

Da ließ mich das scharfe Bremsen eines Autos auf der Straße wieder wach werden. Instinktiv witterte ich Gefahr, zumal mir bekannt war, dass die Wienenbuschstraße für den Durchgangsverkehr gesperrt war. „Was ist, Artur, hast du einen Wunsch?" fragte mich der Genosse Rudolf, der auf mein Rufen ins Zimmer trat. „Schau einmal nach, mir scheint, ein Auto hat vor dem Haus gehalten“, sagte ich und sah ihm besorgt nach, als er die wenigen Schritte zum Fenster machte. Kaum hatte ich sein entsetztes Rufen: „Die Polizei, die Polizei‘ gehört, sprang ich aus dem Bett und schleppte mich unter großen Schmerzen auf die Diele. Hier stand eine Leiter zum Speicher. Die drohende Gefahr verlieh mir trotz der schmerzenden Verletzungen solche Kräfte, dass ich über diese Leiter nach oben gelangte. Hier angekommen, schloss ich die Luke, orientierte mich im Dämmerlicht und entdeckte in einer Ecke einen Hühnerstall. In ihm suchte ich Zuflucht. Er lag etwas tiefer, ragte aber mit seinem oberen Teil in den Speicher. Lediglich mit dem Hemd bekleidet und nur bis zum Nabel sichtbar, bot ich wohl ein originelles Bild. Sekunden später wurde die Luke geöffnet, und ein Polizeibeamter betrat den Speicher. In seiner Hand hielt er schussbereit die gezogene Pistole. Ihm folgte der mir bereits bekannte Gestapo-Mann Willi Oligschläger.

Während mich einer fragte: „Müller, hast du Waffen bei dir?“, kamen beide vorsichtig und schrittweise auf mich zu. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, hätte ich eine Schusswaffe besessen. Aus meiner Hühnerbehausung herausgezogen, schaffte man mich wieder nach unten. Dabei ging man nicht gerade zärtlich mit mir um. Aufmerksam bewacht, musste ich meine Kleidung anziehen. Dann legte man mir Handschellen an und führte mich nach draußen. Hier wimmelte es von Polizei. Als ich sie sah, konnte ich mir ein ironisches Lächeln nicht verkneifen. „Der Bursche grinst noch“, meinte einer und drohte: „Warte nur, dir wird das Lachen noch vergehen.“

Auf offenem Wagen, umringt von zahlreichen Polizei- und Gestapo-Beamten, ging die Fahrt durch das ganze Mühlbachtal zurück zum Polizeipräsidium, wo vier Tage vorher meine Flucht begonnen halte. Auf einer Bahre in eine Gefängniszelle getragen, legte man mich hier aufs Bett. Als kurze Zeit später die Zelle wieder geöffnet wurde, sah ich viele mir bereits bekannte Gestapo-Beamte, Männer in SA- oder SS-Uniform und einige Zivilisten auf dem Flur stehen. Zusammen begafften sie mich wie ein Weltwunder.“

In Müllers Gestapo-Personalakte befindet sich ein Bericht der Leitstelle Düsseldorf an das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin vom 1. Februar 1935, dessen Durchschrift auch dem Sicherheitsamt des Reichsführers der SS, SD-Oberabschnitt West, in Düsseldorf zur Kenntnisnahme zuging. Darin wurde die erneute Festnahme des Esseners so geschildert

„Den genannten Artur Müller, der bereits am 3.1.1935 festgenommen wurde, gelang es im Anschluss an eine Vernehmung durch einen unglaublich waghalsigen Sprung aus der II. Etage des Polizeipräsidiums Essens zu flüchten. Am 12.1. 1935, gegen 15.30 Uhr, konnte Müller in der Wohnung des Schriftstellers Rudolf S. , Essen, Wienenbuschstraße 49, wo er sich verborgen hielt, wieder ergriffen werden. In der genannten Wohnung lag Müller zu Bett, da er sich bei dem Sprung durchs Fenster eine Verstauchung beider Beine zugezogen hatte. Das Erscheinen der Polizei war aber von Müller noch rechtzeitig bemerkt worden. lm Hemd flüchtete er auf den Dachboden, wo er sich in einer Vertiefung unter Stroh versteckte. Bei der eingehenden Untersuchung des ganzen Hauses wurde er dann in seinem Versteck vorgefunden und konnte so seine abermalige Festnahme erfolgen.“ 

Nachdem Essens Gestapo-Prominenz und einige andere am Nachmittag des 12. Januar 1935 den wiedergefangenen Häftling wie ein Weltwunder betrachtet hatten, wurde er vom Polizeiarzt untersucht, der seine sofortige Überführung in das Essener Gefängnislazarett anordnete. Hier registrierte man Blutergüsse an den Beinen und im Rücken. Außerdem wurde festgestellt, dass ein Fuß angebrochen war, und dieser wurde in Gips gelegt.

 Neun Monate später, am 12. Oktober 1935, begann vor dem III. Strafsenat des Oberlandesgerichts in Hamm ein Prozess gegen 45 Essener Antifaschisten wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Artur Müller war einer von ihnen. Nach sechs Verhandlungstagen verkündete der Senatsvorsitzende, Oberlandesgerichtsrat Geck, das Urteil. Für Artur Müller lautete es auf 6 Jahre Zuchthaus und 5 Jahre Ehrverlust. Es wurde so begründet: „Der Angeklagte Müller hat sich vom Frühjahr 1934 bis zu seiner Verhaftung sowohl für die KPD wie auch für den KJVD eingesetzt. Er war Kassierer einer KPD-Zelle und hat sich außerdem als Lit.-Obmann äußerst rege betätigt. Außer seiner langen Erwerbslosigkeit und seinem Geständnis stehen ihm keine Milderungsgründe zur Seite, so dass in Anbetracht des großen Umfangs seiner Tat auf die empfindliche Strafe von sechs Jahren Zuchthaus erkannt werden musste. Gleichzeitig waren ihm mit Rücksicht auf die gezeigte ehrlose Gesinnung die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von 5 Jahren abzuerkennen.“

Am 28. Januar 1941 wurde Artur Müller aus der Haft entlassen. Bis zur Zerschlagung des Regimes stand er unter ständiger Polizeiaufsicht. Dann erst begann für ihn wieder das normale Leben in Freiheit.

Das Essener Stadtarchiv am Ernst-Schmidt-Platz

 
Quelle: Aufsatz aus dem Buch „Lichter der Finsternis – Widerstand und Verfolgung in Essen 1933 – 1945 / Band 1 – erschienen im Klartext-Verlag)  von Dr. Ernst Schmidt (1924 - 2009)

 

 

 

Montag, 8. November 2021

Schneeballwurf führte zum Todesurteil

Weil der Junge einen Schneeball auf ein Mädchen schmiss, musste er sterben. Diese Geschichte beschreibt die Ideologie der schwarz gekleideten Mörderbande mit dem Totenkopfemblem an ihren Uniformen und Mützen. Heinrich Himmler wollte in der „Wewelsburg“ nahe Paderborn eine Kultstätte als „Mittelpunkt der Welt für seine SS“ schaffen. Er berief sich auf krude Verschwörungstheorien und das Germanentum. Hier in Büren sollten seine Männer unter anderem geweiht und ihre Asche nach dem Heldentod in einer Gruft aufbewahrt werden. 

Die Wewelsburg heute

Für die Umbauarbeiten des Renaissanceschlosses aus dem 17. Jahrhundert ließ er eigens ein Konzentrationslager nahe der Burg einrichten, das kleinste im damaligen Deutschen Reich und das einzige in Nordrhein-Westfalen. Von den knapp 4000 Menschen starben 1285 an den harten Arbeitsbedingen, Misshandlungen und den unmenschlichen Umständen. Das KZ „Niederhagen“ war auch Exekutionsstätte mit eigenem Krematorium.

Arbeitskleidung als Demütigung

Hier wurde ein Junge ermordet. Seine Name: Günther Ransenberg, 15 Jahre alt. Er war das dritte von sechs Kindern einer jüdischen Familie aus dem Sauerland. Der Junge trug den gelben Davidstern, der ihn und viele andere Menschen, die dem Nazisystem nicht genehm war  brandmarkte. Im März arbeitete er zwangsweise in einer Kolonne beim Eisenbahnbau in der Nähe des elterlichen Wohnortes. Es war Winter - es schneite.

In der Frühstückspause warfen die jungen Burschen und Männer aus Übermut Schneebälle auf  vorübergehende Mädchen. Noch am gleichen Tag nahm die Gestapo den 15-Jährigen fest, er war ja als „Täter“ an seinem gelben Stern schnell ausgemacht.   Sie  brachten ihn KZ Niederhagen nach Büren. Und jetzt geschieht das Unfassbare. Günther wird hingerichtet. In der standesamtlichen Urkunde heißt es amtlich: „Erhängung auf Anordnung des Reichsführer SS.“ Ein Schneeballwurf auf ein so genanntes arisches Mädchen und die Religion seiner Familie kosteten ihm sein junges Leben.

Das Leiden der Familie ging weiter. Zwei Wochen nach dem Tod von Günther starb die Mutter Mathilde (43) an Herzeleid. Der Vater Jacob kommt mit den drei jüngsten Kindern zunächst ins KZ- Theriesenstadt, danach nach Auschwitz. „Gestorben am 1. August“, ergeben spätere Recherchen. Wir wissen, dass sie nicht einfach starben. Die Menschen, darunter Greise, Frauen, Kinder, wurden vergast, erschossen oder zu Tode geprügelt. Nur die beiden ältesten Kinder der Familie Ransenberg überlebten das grausame Regime.  Ihnen gelang die Flucht ins Ausland.

Der Lagerkommandant des KZ Niederhagen, Adolf Haas sagte einmal auf dem Antreteplatz: „Ich bin der Herrgott von Wewelsburg.“ Leider konnte er nie zur Rechenschaft gezogen werden. Er verschwand nach dem Zusammenbruch des "tausendjährigen Reiches" spurlos.

Vor der Befreiung des Lagers durch amerikanische Soldaten im April 1945, sprengten SS-Männer die Wewelsburg. Die Zerstörung gelang nur teilweise.

Die Erinnerung für das unfassbare grausame Unrecht mit Millionen von Toten im Namen Deutschlands bleibt für immer. 

Quellen: 

LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte

http://s-ann.blogspot.com/2013/07/wewelsburg-beautiful-place-with-evil.html

https://www.wewelsburg.de/de/kreismuseum-wewelsburg/geschichte-der-wewelsburg.php

https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=402&url_tabelle=tab_medien