Auch ich stamme aus einer Flüchtlingsfamilie. Väterlicherseits. Mein Opa Hermann („Malchow“) ist 1888 in Reussen/Ostpreußen auf die Welt gekommen. Er ist, wie damals üblich, als ältester Sohn einer Großfamilie mit sieben Kindern groß geworden. 1913 heiratet er meine Oma Auguste. Das Paar bekam zwei Kinder. Zunächst Dorothea (Tante Dora) und zwei Jahre später meinen Vater Walter.
Mit Opa Hermann in Gelsenkirchen-Buer |
Kurz vor dem Ende des Kriegs flüchtete die Familie. „Wir hörten schon den Kanonendonner der russischen Armee“, erzählte mir meine Tante einmal. Da Opa schon immer ein pragmatischer Mensch war, blieb er in Malchow/ Mecklenburg hängen, obwohl viele ihm rieten, noch ein bisschen weiter gen Westen in die britische Besatzungszone zu ziehen. „Nein, hier bleiben wir. Es sieht aus wie in der Heimat,“ soll er gesagt haben.
Im Nachlass meiner Eltern fand ich ein kleines Buch: „Leberblümchenzeit“ von Brigitte Gladen. Sie war eine von drei Töchtern vom Gutsbesitzer in Lonschken. Auch sie musste 1945 ihre Heimat verlassen. Die Autorin erzählt von Ostpreußen, vom Leben auf dem „Gut Lonschken“. Sie versinkt in ihre alte Welt, berichtet von vergessenen Sitten und Bräuchen. Und auf den Seiten 26 bis 28 finde ich meinen Großvater wieder, dem Gärtner und Jäger. Er gehörte zu den Leuten. So hießen die insgesamt 19 Familien der Landarbeiter, Handwerker und Gärtner. Es gab Leutehäuser, Leutekinder, Leutegärten, Leutekühe, Leutegänse, die Leutepumpe und, und, und. Nichts Abwertendes wie man heute vielleicht denken mag.
1963 - Goldene Hochzeit - Oma und Opa "Machow" |
Leider existieren aus dieser Zeit nur wenige Familienfotos. Der Flucht geschuldet.
Opa „Malchow“ kannte ich auch nur als älteren Herrn. Großvater eben. Er arbeitete in Malchow wie früher als Gärtner und brachte es in der DDR sogar zu ein wenig Wohlstand. Die späteren Urlaube in seinem Häuschen mit großem Garten am Fleesensee sind mir, meiner Frau und Kinder noch in bester Erinnerung. Mit Kindern konnte er tatsächlich gut umgehen, so wie im Buch beschrieben. Er starb mit 89 Jahren. Seine Heimat Ostpreußen hatte er nie wieder gesehen.
Auszug aus dem Buch „Leberblümchenzeit“:
„Die Inspektorwohnung lag im seitlichen Flügel unseres Hauses. Daran grenzte des Gärtners Residenz, das Gewächshaus, wo u. a. Bienenkörbe geflochten oder ausgebessert und Strohmatten für die Mistbeete hergestellt wurden. Im Spätsommer lagerten dort große Mengen von Tomaten, an der südlichen Außenwand brachten die Spalierpfirsiche reiche Ernte. Der Gärtner schnitt oft mit einem Diamanten Glas, das er für seine Frühbeete brauchte. Wir fanden alles im Gewächshaus interessant. In der Sommerzeit fuhr der Gärtner zwei Mal wöchentlich sehr früh mit Pferd und Wagen zum nächsten Markt, in Klein Gnie oder Muldzen. Die Orte lagen ca. acht Kilometer entfernt, und nachmittags kehrte er mit leerem Wagen zurück. Er war am Gewinn beteiligt, und so zog er in Lonschken derart gute Gemüse, Spargel, Erdebeeren und Salate, dass es eine Freude war. Die Gemüsegarteneinnahmen war das Taschengeld meiner Mutter. Sie war daher nicht ernsthaft verärgert, dass der Gärtner im Sommer Park- und Blumenanlagen nicht so intensiv betreute wie den Gemüsegarten. Vom Nachmittag an hielten wir Kinder nach dem Gärtnerfuhrwerk Ausschau.
Wir liebten die Abrechnungen. In Türmchen von Kleingeld schob meine Mutter ihm generös seinen Anteil zu, dazu errechnete man einen Prozentsatz von den größeren Münzen. An manchen Tagen meinte Muttchen, nun brächte er aber besonders viel Kleingeld, beziehungsweise Türmchen. Oft mussten wir lange auf des Gärtners Marktrückkehr warten.
Beide Großväter - Hermann und Willy im hohen Alter |
Er pflegte im Abelischker Krug noch ein Gläschen zu trinken, und bei einem blieb es nie. Mein Vater war sehr verärgert darüber, weil das Pferd, genannt „Gärtnerfuchs“, vor dem Krug angebunden, müde und manchmal in Hitze warten musste.
Wenn jemand den Gärtner ärgerte, konnte er sehr ausfallend werden. Zu uns Kindern war er reizend, und wenn wir uns trennten, rief er oftmals freundlich: „Und noch Filimisimang!“ Erst Jahre später, als wir in Insterburg Französisch lernten, wurde mir klar, dass er uns „viel Amüsement“ gewünscht hatte.
Unser Gärtner war gleichzeitig Imker und sorgte für 65 Bienenvölker. Meine Mutter besprach mit ihm die Schleudertermine, damit man möglichst reinen Klee- oder Lindenhonig erzeugen konnte. Geschleudert wurde ca. drei Mal im Sommer und nur bei Sonnenwetter, weil die Bienen dann ausgeflogen waren. Bienenstiche waren sehr gefürchtet, da sie schmerzhaft, im Gesicht zu hässlichen Schwellungen führend, in den Haaren widerlich und in Mengen nicht ungefährlich waren. Mein Vater mied die Handwerkerstube, in der geschleudert wurde. Wir Kinder wollten helfen, weil es so aufregend war, wenn der Gärtner die Wabenkisten auf der Schulter hereinbrachte. Kopftuch bewehrt und mit Handschuhen wurden vier Waben in die Schleuder gehängt, und Muttchen drehte die Kurbel. Das musste „mit Verstand“ geschehen, anfangs sehr langsam, damit die Waben nicht brachen, dann immer schneller. Wie war es spannend, wenn der Honig in dickem Strahl in die Gefäße floss! In jedem Sommer gab es viele Zentner. Der Honig, den Lonschken nicht verbrauchte, wurde abgefüllt und zu 4,5 kg oder 9 kg nach Berlin und ins Reich geschickt. Wir fuhren mit der Spinne nach Abelischken zur Post, mit lauter goldenen, verplombten Eimerchen und dem Postbuch, wo alles eingetragen werden musste. Der Gärtner war immun gegen Bienenstiche. Er arbeitete ohne Kasel und Smoker an den Stöcken. Mir großer Umsicht, von uns unendlich bestaunt, fing er Bienenschwärme ein. An Sommerabenden nahm er uns manchmal zum Bienenstand mit, und wir durften an den Körben lauschen. Wollte eine Königin am nächsten Tag schwärmen, d.h. ein eigenesVolk gründen, rief sie die Bienen mit einem eigentümlichen Tuten dazu auf. Der Gärtner passte anderentags auf, wenn der Schwarm sich erhob und in der Nähe wieder an Baum oder Strauch niederließ. Dann fing er ihn mit einem großen Sack an langer Stange und setzte die Tiere in einen neuen leeren Korb mit vorbereiteten Waben. Immer klappte es nicht, weil Bienenschwärme manchmal sehr weit zogen, aber dafür saß auch schon mal ein fremder in unserem Garten und wurde in Empfang genommen. Wir Kinder aber flohen, sobald
wir einen Schwarm entdeckten, denn es gab gräuliche Geschichten von Pferden, die von Bienen totgestochen worden seien, weil ein Schwarm sich an sie hängte. Meine Schwester Ursel hatte einmal elf Stiche, war Held des Tages, durfte sich zu Bett legen und musste viel
Milch trinken. Man beneidete sie ein wenig um diese Sonderstellung, allerdings nicht mehr, als sie am nächsten Morgen chinesenähnlich zum Frühstück erschien. Ihre Augen waren zugeschwollen, weil eine Biene sie an der Nasenwurzel gestochen hatte.“
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