Freitag, 28. August 2015

„Hol’ den Papa…“




In nur fünfeinhalb Jahren war unsere sechsköpfige Familie komplett. Vater, Mutter, Dieter (1947), Hartmut (1948), Manfred (1950) und Uwe (1953). Was wäre wohl aus mir „Dagmar“ geworden?
Wir wohnten direkt am Polizeipräsidium in Gelsenkirchen-Buer. Parterre. Unser Wohnhaus, Teil der so genannten Polizeistadt, hatte einen schmalen langen Hinterhof. Eine rote Backsteinmauer trennte ihn vom Gelände des Polizeipräsidiums. Dahinter war der schönste Spielplatz der Welt. Pferdestall mit Heuboden, großer Sportplatz mit Sandgrube, nicht verschlossene Einsatzfahrzeuge, Schießstand (!). Alle Polizeikinder unserer Siedlung spielten hier.
Mein Vater arbeitete  im polizeiärztlichen Dienst (das hörte er immer gerne), wir sagten Sanitätsstelle. Er konnte von seiner Dienstelle schräg rüber zu unserem Küchenfenster „spucken“, Luftlinie etwa 10 Meter. Wenn Mutter mal wieder mit uns vier Jungs nicht klar kam, rief sie: "Waaalter, die Kinder..."
Sein Fenster in der 1. Etage öffnete sich dann. Es schallte über den Hof. "Wartet nur, wenn ich nach Hause komm’, dann gibt’s Saures." Manchmal hatte er nach Dienstschluss seine pädagogische Androhung vergessen, er blieb in der Polizeikantine hängen. Diese befand sich direkt unter der Sanitätsstelle und war in der Regel nach Büroschluss voll, voller (!) „grüner“ durstiger Männer. Auch während der Dienstzeit liefen die Geschäfte für den Kantinenwirt nicht schlecht.  Die Nachkriegsgeneration war sehr, sehr durstig.
An solchen Tagen schaute meine Mutter ab 17.00 Uhr gebannt aus dem Küchenfenster zum Ausgang des Dienstgebäudes.  Ob Vater den direkten Weg nach Hause findet? Wir Kinder wussten schon, wo Papa und seine Kollegen gerne den Feierabend verbrachten.
Wenn er nicht heim kam, sagte Mutter zu dem Ältesten: "Geh' rüber und hol’ Papa." Sie befürchtete immer, dass Vater das recht spärliche Polizistengehalt (etwa 400 Mark) in Gerstensaft umsetzte. So wie viele Bergbaufrauen im Ruhrgebiet, die am Werktor standen, wenn’s am Monatsanfang die „Lohntüten“ gab.
Dieter, der älteste der vier Jungs, kletterte über die Mauer, ging in die Kantine und sah Papa in Uniform mit seinen Kollegen an der geschwungenen Theke stehen. Vater bestellte dann beim Wirt, Herrn Ottenströer, eine rote sprudelnde Limonade. „Zitsch“ - 10 Pfennig. Mein großer Bruder trank aus und wurde mit den Worten: "Sag’ Mutti, ich komme gleich", heim geschickt. Nichts passierte. Nach gewisser Zeit war der zweitälteste Hartmut dran: "Geh' rüber und hol' Papa." Der anschließende Ablauf und Dialog zwischen Vater und Sohn verlief ähnlich „Für den Jungen eine Brause, sag’ Mama, ich komme gleich.“ Ich kürze an dieser Stelle ab. Es folgte Manfred, der Dritte im Bunde, und zu  allerletzt der Jüngste – ich.  „Lütti“, so mein familiärer Spitzname, bekam und schlürfte wie seine Vorgänger die rote Brause. Sie wissen schon, was jetzt folgte. Und am Ende des Tages?  
Meine Mutter machte uns bettfertig und sich anschließend ausgehfein, ging - sprang natürlich nicht über die Mauer - rüber in die Polizeikantine 
Beide kamen dann gemeinsam irgendwann heim, während wir vier Geschwister in einem Kinderzimmer von der roten Limonade träumten.

P.S. Meine Eltern waren 66 Jahre verheiratet

Foto: Mein Vater und Herr Schneider an der Theke in der Polizeikantine. Im Ausschank: "Stern Pils"

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