Samstag, 28. Januar 2023

Meine Mutter die Influencerin

Was wäre wenn es vor 70 Jahren schon das Internet, Facebook, Instagram, TikTok, Youtube gegeben hätte? Wäre meine Mutter auch Influencerin geworden? Bestimmt nicht. Keine Zeit. 

Heute lese ich in der Tageszeitung von einer "Mamabloggerin". Sie heißt Sara P. Sie beschreibt und filmt ihren beschwerlichen Mutteralltag wie sie von Wäscheberg zu Wäscheberg rennt. Ein Mann und Vater kommen in dem Artikel nicht vor. Sie ist wohl alleinerziehende Mama mit zwei Kindern. So weit so gut.

Immer wieder schweifen beim Lesen des Artikels meine Gedanken ab. Wie war das eigentlich in meiner Familie? Ich schlüpfe in die Rolle meiner Mutter Katharina, genannt Käthe, Geburtsjahr 1922 und beschreibe ihren Alltag aus dem Jahr 1954 in einem Blog:

 

„Hallo Leute, heute bin ich um 7.00 Uhr aufgestanden. In der Wohnung ist es saukalt. Ich musste erst einmal den Ofen in der Küche anheizen. So ein Mist - keine Kohlen mehr da. Schnell in den Keller und die Kohlenschütte füllen. Zeitungspapier und Holz stapeln, anzünden, warten und Kohlen drauf. Es ist 7.30 Uhr. Jetzt schnell noch meine fünf „Männer“ wecken. Bei den Kindern ist es einfach. Die vier Jungs schlafen alle im Kinderzimmer. Was mache ich zuerst? Uwe ist ganz nass. Erst einmal Stoffwindeln wechseln. Zu einem schönen Puck. Jetzt geht es ans Waschen und Zähneputzen der Kleinen. Katzenwäsche. Ruckzuck im beengten Badezimmer. Manfred wird erst einmal aufs Töpfchen gesetzt. Der muss das doch endlich lernen. Ist doch schon 2 Jahre alt. Die Großen, 4 und 6 Jahre, können schon alleine aufs Klo. „Beeil dich, ruft Hartmut“, weil Dieter so lange für sein Geschäft braucht. Vater steht auf. Na ja, um den brauche ich mich zunächst nicht zu kümmern. Ihn höre ich nur aus dem Schlafzimmer rufen: „Sind meine Hemden fertig.“

Die Küche ist einigermaßen warm. Die Eisblumen an dem Fenster schmelzen so langsam. Frühstück. Die Jungs kriegen Haferflocken in Milch und Zucker. Für Vater schmiere ich Butterbrote, auch die für die Arbeit.

Ab 8.00 Uhr. Die Kinder werden verteilt. Dieter in die Schule, Hartmut in den Kindergarten, Manfred und Uwe kommen in den Laufstall.  Waschtag. Ich muss in die Waschküche, die sich im Keller befindet und von sechs Familien genutzt wird. Für die Kochwäsche muss der große Bottich angeheizt werden.  Wieder alte Zeitungen, Holzscheite stapeln, anzünden, Kohlen drauf. Die Buntwäsche kann in die Wasserbecken. Wieder nach oben. Kurz durch die Wohnung gewischt. Dann geht es Trepp auf Trepp ab. Zum Keller ist es nicht so weit, wir wohnen im Erdgeschoss. Das Wäscheaufhängen ist schon beschwerlicher. Der schwere Korb muss auf den Dachboden. Dort hängen die Wäscheleinen.

Der Vormittag ist ausgelastet. Ach ne, ich muss noch Essen kochen. Viel Geld ist nicht mehr in der Haushaltskasse. Also, gibt es Milchreis mit Zucker und Zimt, Fleisch sowieso nur am Sonntag oder ein bisschen zwischendurch.


 So nach und nach sind um die Mittagszeit alle wieder daheim. Es wird gegessen. Natürlich zusammen. Zunächst ein Tischgebet. Segne Herr, was deine Hand uns in Gnaden zugewandt. Uwe und Manfred müssen gefüttert werden. Nach dem Spülen mit der Hand Mittagsschlaf. Nicht für mich, sondern für die Jungs. Es wird weiter in der Waschküche gewerkelt. Die großen Teile müssen durch die Presse. Handarbeit. Und alles wieder 50 Stufen hoch zum Trockenboden.

Ich nehme mir Zeit. Bin ein Viertelstündchen im Sessel eingeschlafen. Dann geht’s weiter. Auch der Ofen im kleinen Wohnzimmer musste zwischendurch angefeuert werden. Der wird Gott sei Dank mit Koks und Briketts geheizt. Da muss ich nicht wie in der Küche immer Kohlen nachschütten. Oh, wie schön wäre ein gasbetriebener Küchenherd. Vielleicht einmal später, wenn wir mehr Geld haben.

Die Kinder spielen im Kinderzimmer. Dieter sitzt in der Küche und macht die ersten Schreibversuche auf der Schiefertafel. Wenn die Buchstaben nicht schön genug sind, werden sie mit dem Schwamm ausgeputzt. „Schatz, bitte noch einmal“.

Vater kommt von der Arbeit, fällt mit den Worten: „Bin ich kaputt“, aufs Sofa. Vor dem Einschlafen murmelt er noch: „Muss ich heute Abend in den Sportverein, zum Kegeln oder zu meinen Sangesfreunden?“

Ich gehe ins Kinderzimmer: „Pssst, leise, Papa schläft. Er hatte einen schweren Tag.“

Ich wurschtle weiter in der in der kleinen 4,5 Zimmer-Wohnung. Putzen, bügeln, backen, kochen, Bett beziehen und, und…

Der Tag geht langsam zu Ende. Nicht für mich. Die Kinder werden nach und nach ins Bett gebracht. Vater ist beim Kegeln mit seinen Arbeitskollegen. Endlich Ruhe, Zeit für mich. Auch nicht so recht. Ich plane gedanklich den nächsten Tag. Ablenkung finde ich dabei beim Stopfen der Socken und Hosen. Muss ja auch gemacht werden. Gut, dass wir noch keinen Fernseher haben. Der lenkt nur ab.

Einen der Jungs habe ich ins Ehebett rüber getragen. Um es anzuwärmen. Vater kommt vom Kegeln angetüddelt nach Haus. Immer der selbe Spruch „Ich bin König oder ich habe den Pudel.“

Die „Wärmflasche“ muss wieder ins Kinderbettchen. Jetzt aber, ab ins kuschelige Bett. Ich freue mich auf die Nacht, bin bestimmt gleich eingeschlafen. Ach ne, da hat sich der liebe Gott mit Unterstützung des Gesetzgebers noch etwas ausgedacht. Das heißt im Amtsdeutsch: eheliche Pflichten. Ich gucke an die Decke. Noch ein Kind können wir uns nicht leisten. Obwohl? Uwe sollte ja schon eine Dagmar werden. Ein Mädchen wäre schön. So, jetzt ist aber endgültig Schluss. Noch ein kurzes Nachtgebet. Ich träume von Wasch- und Spülmaschinen, Kühlschränken, elektrischen Küchenhelfern, Pampers, Urlaube, Geld und Tabletten, die vielleicht eine ungewollte Schwangerschaft verhindern. Tschüss Leute. Ich hänge euch noch ein Foto dran. Ich beim Strümpfe stopfen.“