Donnerstag, 18. November 2021

ALDI-Gründer Theo Albrecht vor 50 Jahren entführt

Vorwort: 

In polizeieigener Sprache wird die Entführung von Theo Albrecht, schon damals einer der reichsten Männer Deutschlands, im folgenden Artikel erzählt. Er erschien im Jahrbuch der Essener Polizei. Die kleineren kriminalpolizeilichen Fehleinschätzungen und Fahndungspannen bleiben natürlich außen vor und wurden nur in feuchtfröhlicher Runde und Bierlaune intern erzählt. Viele Kripobeamte antworteten später bei ihrer Pensionierung auf die Frage nach ihrem größten Fall: „Die Albrecht-Entführung.“ Die wenigen letzten Zeitzeugen halten sich mit ihren Erinnerungen immer noch diskret zurück. Heutzutage würde die Polizei viel professioneller den Kriminalfall bearbeiten. Die technischen, taktischen Möglichkeiten haben sich in fünf Jahrzehnten enorm verbessert. Spezialeinheiten existierten 1971 noch nicht. Damals: Die Einsatzleitung erfolgte durch Einsetzen einer Sonderkommission aus der Alltagsorganisation heraus.  Heute: Auf Knopfdruck würde einen BAO (Besondere Aufgabenorganisation) mit besonders geschultem PF (Polizeiführer) aufgerufen. Die folgende Schilderung muss deshalb mit dem Datumstempel 1971 versehen werden. 

Ich habe im Oktober des Jahres als junger Schutzmann und Oberwachtmeister in der Essener Innenstadt (Schutzbereich I) meine ersten unsicheren Polizeischritte unternommen. 18 Jahre alt, noch nicht einmal volljährig. Von der Albrecht-Entführung und den polizeilichen Maßnahmen rund herum haben wir auf der „Gerlingwache“ nichts mitbekommen. Denn auch intern hielt der damalige Polizeipräsident Hans Kirchhoff („Der blonde Hannes“), der sich als Berater einen Kriminalbeamten aus München holte, den Deckel drauf. 

Der Fall Albrecht (aus dem Jahrbuch der Essener Polizei 1971 ) - Autor unbekannt:

Misstrauisch - dennoch voller Verständnis blickten die auf der Kriminalwache anwesenden Beamten den aufgeregten Herrn (Anmerkung: ALDI-Rechtsanwalt) hinter der Wachtheke an, der unbedingt zu dieser Zeit noch den Polizeipräsidenten  persönlich zu sprechen wünschte, selbstverständlich  in einer äußerst dringenden und ebenso vertraulichen Angelegenheit. Als sich dann nach und nach herauskristallisierte, dass es sich tatsächlich um einen Fall handelte, für den es sich lohnte, die Leitung der Essener Polizei und Staatsanwaltschaft zu alarmieren, begann am 30.11.1971, gegen 00.40 Uhr, die Albrecht-Story, einer der spektakulärsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte.

Theo Albrecht (49) - mit diesem Foto geht die Polizei in die Öffentlichkeit

Tatsächlich begonnen hatte der Fall aber schon am Montag, 29. 11.1971, gegen 18.15 Uhr, in Herten, als der Essener Kaufmann und Millionär Theodor Albrecht beim Verlassen seines Firmensitzes gekidnappt wurde.

Eine 30köpfge Sonderkommission - in der Folgezeit durch drei Observationsgruppen aus Köln, Düsseldorf und Dortmund verstärkt - nahm sofort die Arbeit auf. Die zunächst eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen nach dem Auto des Entführten hatten bereits am nächsten Morgen Erfolg. Das Fahrzeug wurde in Gelsenkirchen-Buer gefunden. Zunächst musste man allerdings auf Zeichen von den Entführern bzw. dem Entführten warten. Noch in der Nacht der Entführung hatten sich die Kidnapper zum ersten Mal gemeldet.

Am 5. 12.1971 präsentierten sie schließlich ihre Forderung: 7 Millionen D-Mark in 100-, 500- und 1000-DM-Scheinen. Später wurde dann der Modus der Geldübergabe bekanntgegeben.

Am 7. 12. 1971 sollten der Anwalt des Entführten, sein Geschäftsführer, seine Frau und sein Sohn das Geld übergeben. Das ,,roch“ jedoch nach weiterer Geiselnahme, deshalb wurden Kriminalbeamte durch Maskenbildner hergerichtet, um anstelle der Angesprochenen das Geld übergeben zu können. Die Privatfahrzeuge der Familie Albrecht wurden außerdem mit versteckten Funkgeräten ausgerüstet. Die geplante Geldübergabe platzte jedoch, weil die Familie des Entführten auf Anraten der Kripo nur gegen gleichzeitige Freilassung der Geisel das Geld aushändigen wollte.

Bis zu diesem Zeitpunkt konnte die ganze Affäre geheim gehalten werden. Inzwischen hatte jedoch die Presse ,,Wind bekommen“. Zunächst konnte zwar ein Stillhalteabkommen getroffen werden, doch am 9.12.1971 erging schließlich Mitteilung an die Öffentlichkeit. Durch die Mithilfe der Bevölkerung hoffte man, dem Aufenthaltsort des Entführten näherzukommen. Die allzu große Betriebsamkeit der Presse verunsicherte die Täter, so dass es erst nach einigen Tagen zur neuen Kontaktaufnahme kam.

Am 16.12.1971 übergab der als Vermittler eingeschaltete Ruhrbischof Dr. Hengsbach im Raum Breitscheid bei Düsseldorf das Lösegeld und konnte dafür den freigelassenen Theo Albrecht zu seiner Familie zurückbringen. Als die Freilassung am nächsten Tag der Kripo und der Staatsanwaltschaft bekannt wurde, konnte der Fahndungsapparat voll anlaufen.

Vermittler und Lösegeldüberbringer Ruhrbischof Franz Hengsbach

Auch die Schutzpolizei war bis dahin nicht untätig gewesen. Rund um die Uhr standen besonders ausgerüstete und bewaffnete Einsatzeinheiten der Schutzpolizei bereit, um im Bedarfsfalle Straßensperrungen, Durchsuchungen und andere Maßnahmen durchführen zu können. Hervorgehoben zu werden verdienen auch die vielfältigen modernen technischen Mittel, die eingesetzt worden sind. Die kriminalpolizeiliche Erfahrung, dass bei Menschenraub und räuberischer Erpressung dem schnellen und sinnvollen Einsatz von fernmeldetechnischen Hilfsmitteln für die Sicherheit des Entführten und die Aufklärung der Straftat besondere Bedeutung zukommt, hat sich in diesem Entführungsfall erneut bestätigt. 

So stieg mit Beginn der ersten polizeilichen Maßnahmen der Fernsprech-, Fernschreib- und Funkverkehr enorm an. Allein die Ferngesprächeinheiten lagen gegenüber der vergleichbaren Zeit um 19 000 höher, und weit über 500 Fernschreiben mussten zusätzlich abgesetzt werden.

Bereits nach dem ersten Anruf der Entführer in der Wohnung Albrecht  wurde dieser Anschluss im Einvernehmen mit der Deutschen Bundespost auf „Fangschaltung“ gelegt. Alle weiteren Anschlüsse, auf denen Anrufe der Entführer zu erwarten waren, versah man mit Tonaufzeichnungsgeräten, um so die Voraussetzung für eine Täterstimmen-Identifizierung  zuschaffen. […] Die gemieteten schnellen Personenwagen mussten im Interesse eines zuverlässigen Informationsaustausches  mit improvisierten Polizeifunkanlagen ausgestattet werden.[…] Die Verwendung der vielfältigen Fernmeldemittel machte die Einrichtung einer technischen Einsatzleitung notwendig. […] Hierzu gehörten auch die Präparierung der verschiedenen Kraftfahrzeuge (für die Übergabe des Lösegeldes) und die Verwendung eines von München eigens eingeflogenen Minipeilsenders. […] Um auch für die im Münsterland langfristig eingesetzten Observationsgruppen eine zuverlässige Funkverbindung zu gewährleisten, wurde im Einvernehmen mit den zuständigen Behörden auf dem Longinusturm in Nottuln ein ortsfestes Funkrelais aufgebaut.

Rechts im Bild einer der Ermittler und späterer Leiter des 1. Kommisssariats Klaus Mannigel

Die kurzfristige Information aller Grenzübergangsstellen und Flughäfen war ebenso wichtig wie die Herstellung schneller Fernschreib- und Fernsprechverbindungen zum Bundeskriminalamt und nach Übersee.

Die Mithilfe von Tonträgern aufgezeichneten Täterstimmen haben – zweckentsprechend geschnitten und kopiert und über alle Fernseh- und Rundfunkanstalten im Bundesgebiet ausgestrahlt – zu entscheidenden Täterhinweisen und schließlich zur Festnahme des verdächtigen Krone geführt.

Ein Düsseldorfer Radiohändler hatte die Stimme eines Mannes wiedererkannt, der am Morgen des 18.12. bei ihm eine alte Schuld von 3400 DM beglichen hatte. Wie sich später herausstellte, stammten drei der 500-DM-Scheine, mit denen der Kunde bezahlt hatte, aus der Lösegeldsumme. 

Am 20.12. konnte Kron beim Verlassen seiner Zweitwohnung in Düsseldorf festgenommen werden.

Als Kron am 29.12. schließlich ein Geständnis abgelegte und den Düsseldorfer Rechtsanwalt Ollenburg als seinen Mittäter bezeichnete, waren die Ermittlungen soweit gediehen, dass die Anwaltspraxis bereits seit einiger Zeit beobachtet wurde. Bei der Durchsuchung am 29.12. war Ollenburg jedoch ausgeflogen; er hatte sich am Mittag mit seiner Freundin nach Mexiko abgesetzt. Noch am selben Tag gegen 20.15 Uhr nahm die mexikanische Polizei Ollenburg und seine Freundin im Hotel fest.

Theo Albrecht hatte inzwischen die Praxis von Ollenburg als Ort seines Zwangsaufenthalts wiedererkannt. Ollenburg kehrte am 1.1.1972 freiwillig zurück, er wurde am Kölner Flughafen festgenommen. Am 2.1. legte er ein volles Geständnis ab, das sich mit dem des Mittäters Kron deckte. Lediglich in Bezug auf den Verbleib des Lösegeldes widersprachen sie sich. Während Kron erklärte, aus der Summe nur 10.000 DM erhalten zu haben, behauptete Ollenburg, die Summe sei inzwischen redlich geteilt worden. Die Hälfte des Lösegeldes, mehr als 3 Millionen DM, ist inzwischen wieder aufgetaucht. 2,8 Millionen DM lagen in Waldgebieten bei Kaiserswerth und Recklinghausen vergraben, 200.000 DM gab ein Geschäftsmann zurück, der sie von Ollenburg erhalten hatte. […]

Kripobeamte - in der Mitte Jürgen Springen - zählen das ausgegrabenen Lösegeld

Die in der Sonderkommission tätigen Kriminalisten waren bis an die Grenze ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit im Einsatz. Sie haben dabei ein hohes Maß an Pflichtbewusstsein, Gewissenhaftigkeit und Verantwortungsfreude gezeigt, gepaart mit Findigkeit, Entschlusskraft und Durchhaltevermögen. Auf Beamte mit dieser berufsethischen Einstellung ist auch in Zukunft Verlass. Sie verdienen das Vertrauen von Staat und Bevölkerung. Schließlich durften auch andere Aufgaben nicht vernachlässigt werden. Die Betroffenen waren nicht zuletzt die Familienangehörigen dieser Beamten.

Für Weihnachtsvorbereitungen blieb kaum Zeit - wie sollte auch, bei normaler Dienstzeit plus zusätzlich mehr als 10 000 Überstunden? Deshalb gelangte dieser außergewöhnliche Fall auch auf außergewöhnliche Art und Weise zum. Im Rahmen einer feuchtfröhlichen ,,Dienstbesprechung“ im PSV-Heim löste der Behördenleiter (Anmerkung: Polizeipräsident Hans Kirchhoff) die Sonderkommission am 25. 3. 1972 auf und sprach ihr Dank und Anerkennung aus. Er stellte fest, der Fall Albrecht habe gezeigt, dass eine moderne Polizei nur erfolgreich zu arbeiten vermöge, wenn ihr ausreichende Hilfsmittel, die dem neuesten Stand der Technik entsprächen, zur Verfügung stünden. Er hob hervor, dass der Erfolg wesentlich durch das Verständnis und die Mithilfe der Familienangehörigen - besonders der Ehefrauen der Beamten - mitbedingt war. 
Zum Gelingen des Festes trugen sowohl der Entführte als auch Innenminister Weyer bei.

Anmerkung: 

Die beiden Entführer, Rechtsanwalt Heinz Joachim Ollenburg (damals 48 Jahre alt) und Autoschlosser und Einbrecher („Diamanten-Paule“) Paul Kron (damals 39 Jahre alt) wurden 1973 zu jeweils 8,5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Hälfte des Lösungsgeldes blieb für immer verschwunden. Theo Albrecht lebte nach seiner Entführung sehr zurückgezogen in seinem Stadtteil Bredeney, hielt noch lange Jahre nach dem Geschehen die Verbindung zur Essener Polizei und lud immer zu Weihnachten einige Ermittler zu ALDI-Kaffee und ALDI-Christstollen in seine Villa ein. 

Theo Albrecht starb am 24. Juli 2010 - Die Grabstätte der Familie auf dem Friedhof in Bredeney
 

Fernsehtipp: Der WDR zeigt am kommenden Freitag, 19.11.2021 in der Sendereihe „Herzflimmern“ eine Dokumentation der Entführung. Jetzt schon in der ARD-Mediathek:

https://www.ardmediathek.de/video/wdr-dok/die-aldi-entfuehrung/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTFlZDYwYTVkLTI3ZTMtNGZkMi05MGMxLTMzMzQ2Nzk4YzQ2NQ/

Buchtipp: „Auf den Spuren der Albrechts“ von Martin Kuhna (freier Journalist, ehemaliger WAZ-Redakteur und Polizeireporter). Erschienen im REDLINE VERLAG. Martin Kuhne gilt mittlerweile als „Albrecht-Experte“.

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