Vorwort: Das Polizeipräsidium ist zurzeit in den Schlagzeilen. Die Polizei möchte aus ihrem Stammhaus -
erbaut von 1914 - 1918 - umrahmt von der Hufeland-/ Virchow- und Büscherstraße auf den Stadtteilgrenzen Holsterhausen/ Rüttenscheid - ausziehen. Als Grund wird Platzmangel
angegeben. Es ist einer der wenigen großen Amtsgebäude in Essen, die den Bomben des 2.
Weltkrieges leicht beschädigt standhielten und steht unter Denkalschutz. In einem früheren Aufsatz für den Rüttenscheider
Heimatverein schrieb ich: „Wenn die Mauern erzählen könnten."
Ende der 1980er-Jahre lernte
ich den Stadthistoriker Dr. Ernst Schmidt (Jahrgang 1924) kennen. Er
recherchierte für sein Buch „Lichter in der Finsternis – Widerstand und Verfolgung
in Essen 1933 – 1945“ und bat um polizeiliche Hilfe. Es ging um einen Vorfall
aus dem Jahr 1935. Das damalige Terrorregime
verfolgte alle Bürger, die nicht ihrer Ideologie folgten. Sozialdemokraten,
Kommunisten, Zeugen Jehovas, Sinti, Roma, Homosexuelle und vor allen Dingen Landsleute
mit jüdischem Glauben.
Gestapo, Kripo und Schupo
arbeiteten eng zusammen. Wie auch in diesem Fall. Ernst Schmidt wollte wissen,
aus welchem Fenster des Polizeipräsidiums der Kommunist Artur Müller vor seinen
Peinigern im Januar 1935 sprang und flüchtete. Leider haben wir das nicht
ermitteln können. Aus dem folgenden Text geht das Zimmer hervor. Raum 265 in
der 2. Etage des Polizeipräsidiums.
Am Rande erfuhr ich, dass
selbst der Autor und Historiker Dr. Ernst Schmidt beim damaligen 14.
Kommissariat (heutiger Polizeilicher Staatsschutz), das direkt dem Polizeipräsident
Dr. Max Bloser unterstellt war, aktenmäßig erfasst war. Denn er war nach dem
Krieg Mitglied der Deutschen Kommunisten Partei (DKP) bis 1982, bevor er in die
SPD eintrat. Der gebürtige Borbecker
hinterließ ein riesiges Archiv seiner wissenschaftlichen Recherchen und
Dokumente aus der Essener Arbeiterbewegung.
Das „Haus der Essener
Geschichte“ befindet sich heute an einem Platz, der seinen Namen trägt:
Ernst-Schmidt-Platz. (Uwe Klein)
1935 - Der Fenstersprung aus dem
Essener Polizeipräsidium
von Dr. Ernst Schmidt
Pfingsten 1950 fuhr ich mit Gleichgesinnten zum 1. Deutschlandtreffen der Jugend
nach Berlin. Dicht gedrängt saßen wir in einem Eisenbahnabteil und vertrieben
uns die Zeit mit mancherlei Gesprächen. Neben mir saß Artur Müller, dem ich
vorher schon hier und dort begegnet war. Die Gespräche verstummten, als er
begann, einige Erlebnisse aus der Zeit des Faschismus zu erzählen. Unsere
Ankunft am Ziel unserer Reise ließ mich jedoch bald schon wieder an anderes
denken.
In den folgenden Jahren
nahm ich mir immer wieder vor, mit Artur Müller nochmals über das zu sprechen,
was ich bei der gemeinsamen Reise gehört hatte. Erst 25 Jahre später fand ich
dazu die Gelegenheit. Ich erfuhr dabei mehr von dem Erleben des Mannes, dessen
Erzählungen mich 1950 stark beeindruckt hatten. Seine erste politische
Konfrontation erlebte Artur Müller im Januar 1923, als französische und
belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten. Ihre Anwesenheit gab auch in Essen
manchen Anlass zu Auseinandersetzungen.
Er war Laufjunge bei
Krupp, als am Karsamstag 1923 französischen Soldaten in der Altendorfer Straße
dreizehn Krupp-Arbeiter erschossen. Am Morgen des Tages hatte eine Einheit der
französischen Armee die Kraftwagenhalle der Firma Krupp in der Nähe der
Hauptverwaltung besetzt. Herbeigerufen von heulenden Werksirenen, strömten
später Tausende Krupp-Arbeiter zusammen.
Das lag ganz im Sinne der
Firmenleitung, die lange vorher mit dazu beigetragen hatte, nationalistische
Stimmungen in der Belegschaft zu wecken. lmmerhin lenkten solche Emotionen die
Arbeiter von Lohnforderungen ab und machten sie außerdem zu einem Werkzeug des
Konkurrenzkampfes, in dem sich deutsche und französische lndustrielle damals
befanden. Beeinflusst von
aufpeitschenden Redensarten, wuchs die Erregung der Demonstranten und mit ihr die
drohende Haltung gegenüber den französischen Soldaten. Artur Müller stand
mitten unter ihnen, als die Gewehrsalven abgefeuert wurden. Bis dahin hatte er
dem kommunistischen Betriebsrat Josef Zander zugehört, der von einigen Kollegen
hochgehoben — lautstark die Krupp-Arbeiter aufforderte, keine nationalistischen
Losungen zu befolgen und sich nicht provozieren zu lassen. Als er sah, wie
dieser dann von den Kugeln tödlich getroffen zur Erde sank, machte er kehrt und
lief um sein Leben.
Kurze Zeit danach trat er
dem Kommunistischen Jugendverband und später auch der Kommunistischen Partei
Deutschlands bei. Aktiver antifaschistischer Einsatz machte ihn 1933 zu einem
Verfolgten durch die neuen Machthaber. Mit Gleichgesinnten ging er deshalb außer
Landes. Nach vorübergehendem Aufenthalt in Holland, Frankreich und im
Saargebiet kehrte er am 6. Februar 1934 wieder nach Essen zurück. Sofort nahm
er hier am organisierten Widerstand teil. Das ging gut bis zum 3. Januartag des
Jahres 1935. Er war gerade auf dem Wege zum Treff mit einem seiner Genossen, als
die Gestapo ihn in der Aachener Straße
festnahm.
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Rechts fehlt noch der im Krieg zerstörte Anbau - heutiger Westflügel
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Ausführlich erzählte Artur
Müller: „Schon die ersten Vernehmungen ließen mich fast verzweifeln. Nacheinander
nahm mich ein Gestapo-Mann nach dem anderen vor. Ob es Albert Schweim, Richard Aurich, Heinrich Wientgen, Ernst Schröder,
Fritz Vaupel oder Heinz Hasselbach waren. Sie und ihre Prügelknechte quälten
mich erbarmungslos. Eines Tages vernahm mich Aurich wieder und legte mir ein
Foto vor, auf dem ich den illegalen Bezirksleiter des Kommunistischen
Jugendverbandes Deutschlands im Ruhrgebiet erkannte. Mit ihm hatte ich in den
letzten Monaten eng zusammengearbeitet. „Kennst du den?“ fragte er mich. - Schweigen!
Dann Schläge. „Schau’ dir das Bild richtig an, und sag schon, ob du den Mann kennst?“
- Wieder Schweigen. - Wieder klatschende Schläge. Mit geballten Fäusten stand
Aurich vor mir, sah mich wütend an und brüllte: „Mensch, Müller, gib zu, dass
du den Mann kennst, und sage uns, wie er heißt‘. „Nein“, rief ich zurück und
schwieg dann wieder. Aurichs Faustschläge trafen mich links und rechts hinter
den Ohren. Ich fiel auf den Boden und sah über mir die hasserfüllten Augen eines
menschlichen Scheusals. Hochgerissen und auf einen Stuhl gesetzt, hörte ich
Aurich sagen: „Die Prügel hättest du dir ersparen können. Deinen Komplizen
haben wir längst, gleich werden wir ihn dir vorführen, vielleicht wirst du dann
gesprächiger.“ Kurz darauf öffnete sich
die Tür, und ein Mann wurde ins Zimmer geführt. lm ersten Augenblick erkannte
ich ihn nicht. Sein Gesicht war zerschlagen, beide Wangen blutunterlaufen, ein
Auge vollkommen zu, das andere nur halb auf. Lediglich die Figur und das krause
Haar überzeugten mich davon, dass es der Genosse war, den ich schon auf dem vorgelegten
Foto erkannt hatte. „Jetzt wollen wir einmal hören, ob er dich kennt“, sagte
Aurich und schritt auf mein Gegenüber zu. Eisernes Schweigen war auch hier zunächst
die Antwort auf seine Fragen.„Dann muss ich ein wenig
nachhelfen“, sagte die Bestie in Menschengestalt und schlug mit dem
Ochsenziemer auf den Schweigenden ein. Mir schwollen die Adern, zugleich aber
begriff ich die eigene Hilflosigkeit. Als mein grausam gefolterter Genosse dann
unter den klatschenden Schlagen stockend und kaum verständlich sagte: „Ja, das
ist Artur Müller, der mir bei der illegalen Arbeit geholfen hat“, da wusste
ich, dass er längst nicht mehr zurechnungsfähig war. „Na, Müller, hast du gehört,
was er gesagt hat?“, fragte mich Aurich, ließ dabei den Ochsenziemer kurz durch
seine Hand gleiten und versetzte mir einen Schlag, der meine Schulter traf.
Dann wollte er von mir wissen, was ich mit den bei mir angelieferten Flugblättern
gemacht hatte. „Ich habe sie unter Haustüren geschoben und in Gärten geworfen“,
antwortete ich und schwieg dann wieder. „Die Methode kenne ich, du willst nur
deine Untergruppen schützen“, sagte er und fügte drohend hinzu: „Erst werde ich
einmal den Kerl hier wegbringen, dann unterhalten wir uns weiter.“
Sekunden später stand ich
allein im Zimmer. Aurich war mit meinem Genossen auf den Flur gegangen und
hatte die Tür hinter sich verschlossen. Bald würde er zurückkommen. Da fuhr mir
ein Gedanke durch den Kopf und ließ mich sofort handeln. Mit einem Satz war ich
am Fenster und stieß beide Flügel auf. Unter mir lagen noch zwei Stockwerke,
ich aber sah vor mir immer nur den Ochsenziemer schwingenden Gestapo-Schlager. Nur
weg von hier, dachte ich und zögerte nicht einen Augenblick. Meine Beine über
die Brüstung schwingend, hing ich bald mit beiden Händen an der Fensterbank und
ließ mich dann in die Tiefe fallen. Ein Ligusterbusch stoppte sanfter als der
Erdboden meinen Aufschlag. „Du lebst ja“, ging es mir durch den Kopf, und ein
Gefühl der Kraft berauschte mich. „Jetzt nichts wie weg!“ Ich befand mich im äußeren Hof des Polizeipräsidiums, der
von der Straße durch ein etwa zwei Meter hohes Tor getrennt war. Unbemerkt lief
ich zum Tor, sprang in die Höhe und erreichte mit den Händen den oberen Rand.
Mich mit einem Fuß auf der Klinke abstützend, gelang es mir, das Hindernis zu überwinden.
Augenblicke später lief ich die Straße entlang, bis zu einem offen stehenden
Hoftor eines Wohnhauses. Wie ein gehetztes Tier rannte ich auf den Hof, um mich
hier vor den Verfolgern zu verstecken.“
Dieser Fenstersprung und
die Flucht Artur Müllers waren auch Inhalt eines Gestapo-Berichtes. Deutlich nüchterner
in der Darstellung, diente er 1935 dem Verfasser Richard Aurich zugleich als
Entschuldigung seiner Unachtsamkeit. Er habe am 8. Januar 1935 im
Zimmer 265 einen Festgenommenen dem Müller
gegenübergestellt. Als er danach diesen wieder abgeführt hatte, sei Müller in dem
im zweiten Stockwerk des Hauses
gelegenen Zimmer für einen Augenblick allein geblieben. Allerdings sei an
dieser Stelle der Keller vollkommen frei ausgebaut gewesen, so dass man bei
einer wirklichen Höhe von drei Stockwerken wohl kaum an die Ausführung eines
Fluchtversuches habe denken können.
Nach diesem Versuch der
eigenen Rechtfertigung gegenüber seiner
vorgesetzten Behörde schildert er den Fenstersprung und die gelungene Flucht
seines Häftlings so: „Die kurze Zeit meiner Abwesenheit hat Müller benutzt, um
aus dem Fenster zu springen. Er hatte insofern besonderes Glück, dass er auf
eine Hecke und dann auf weichen Lehmboden aufgeschlagen ist, wodurch die Folgen
des sonst wohl tödlichen Sprunges derart abgeschwächt wurden, dass Müller über
ein etwa zwei Meter hohes Tor auf die Straße gelangen konnte. Er floh in der
Richtung zur Virchowstraße und wandte sich dann zur Hufelandstraße. Von dort
aus fehlt jede Spur des Müllers. Die sofort aufgenommene Verfolgung ist ohne Erfolg
geblieben. Es wurde sofort Funkspruch an alle aufgegeben. Die Landratsämter
Geldern, Cleve und Wesel und das Grenzkommissariat Kaldenkirchen wurden fernmündlich
benachrichtigt. Briefsperre ist über die Eltern und die Braut verhängt.“
Als ich Artur Müller den Inhalt
des Aurich-Berichtes vom 8. Januar 1935 vorlas, lächelte er und sagte: „Was da über
meinen Fluchtweg niedergeschrieben wurde, ist aus der Luft gegriffen. Man nahm
an, ich sei in Richtung Virchowstraße gelaufen, um von dort die Hufelandstraße
zu erreichen. Das war aber falsch gedacht. lm äußersten Hof des Polizeipräsidiums
befanden sich zwei Tore. Eines führte zu den angrenzenden Anlagen, das andere
befand sich an der Virchowstraße. Ich bin über das Tor zu den Anlagen
geklettert, weil das Auto, in dem man mich am Tage meiner Festnahme zum Präsidium
gebracht hatte, durch das andere Tor in den Hof gefahren war. Dabei ist mir der
dort stehende Polizeiposten aufgefallen. Als Aurich mich bei seiner Rückkehr ins
Zimmer vermisste, hat er - wie ich später erfuhr - im ersten Augenblick seine
Suche auf Akten- und Garderobenschränke im Raum konzentriert. Erst eine am
Boden liegende Milchflasche - ich hatte sie vom Fensterbrett gestoßen - ließ
ihn meinen Fluchtweg vermuten. Der Blick aus dem Fenster auf den durch meinen
Aufschlag eingedrückten Ligusterstrauch verschaffte ihm Gewissheit.
Zu diesem Zeitpunkt hatte
ich längst schon den Hof des Wohnhauses erreicht. Auch dort war kein Mensch
weit und breit zu sehen. Durch eine offen stehende Tür gelangte ich in die Waschküche.
Hier stand in einer Ecke ein Weihnachtsbaum. Kurzentschlossen verkroch ich mich
in diese Ecke der Waschküche und hielt den Weihnachtsbaum schützend vor mir.
Jetzt erst erfüllte mich ein Gefühl der Freude und Hoffnung. „Du bist den
Bestien entkommen“, ging es mir durch den Kopf, und bestimmt habe ich dabei
gestrahlt wie jemand, der in einer Lotterie den Hauptgewinn gezogen hatte.
Polizeisirenen auf der Straße,
näher kommende aufgeregte Stimmen und das Läuten der Türglocke des
Hauses ließen mich jedoch schlagartig wieder meine nahezu ausweglose Lage
erkennen. „Jetzt haben sie dich wieder“, sagte ich mir und sah mich im Geiste
wieder in einer Gefängniszelle. Ein wenig von Panik erfasst, wollte ich aufspringen
und davonrennen, aber nahezu unerträgliche Schmerzen in den Beinen und im Rücken
hinderten mich daran. Jetzt erst bemerkte ich die Folgen meines tollkühnen
Sprunges aus dem Fenster. Die Füße waren dick geschwollen, und nur mühsam
gelang es mir, mich aufzurichten. Erst nachdem ich meine Schuhbänder gelöst hatte,
empfand ich ein wenig Erleichterung. Vorn übergebeugt und stark hinkend setzte
ich die Flucht durch den Garten der Villa fort. Mein Äußeres war keineswegs
einladend. Bei der Festnahme durch die Gestapo waren mir Hosenträger, Krawatte,
Mantel und Kopfbedeckung abgenommen worden. Mit einer Hand die Hose haltend,
wankte ich in den mir belassenen wenigen Kleidungstücken durch die Gegend.
Irgendwie gelangte ich unmittelbar neben den damaligen Städtischen Krankenanstalten auf die Hufelandstraße (Anm.: heutige
Universätsklinikum). Hier sah ich am Eckgeschäft auf der anderen Straßenseite einen
Stangeneiswagen stehen. Heute im Zeitalter der Kühlschränke und Gefriertruhen
ganz aus dem Straßenbild verschwunden, lieferten diese Wagen damals an Gaststätten,
Hotels und Geschäfte mit verderblichen Waren die in Eisfabriken eigens für
diesen Zweck angefertigten Stangen des gefrorenen Wassers. Der Eiswagen, den ich gegenüber
den Städtischen Krankenanstalten stehen sah, gehörte Leo, einem Bekannten aus
Frohnhausen, der damit die Kunden einer Essener Stangeneisfabrik belieferte.
Neue Hoffnung auf ein Gelingen meiner Flucht erfüllte mich, als ich, die Straße
überquerend, auf den Wagen zuwankte. In diesem Augenblick trat
Leo aus dem Geschäft heraus, sah mich in meinem elenden, mitleiderregenden
Zustand an seinem Wagen stehen und fragte besorgt: „Was ist mit Ihnen?“ –
„Mensch, Leo“, sagte ich, schaute ihn an und bemerkte, dass er mich jetzt
erkannte. „Wo kommst du denn her, Artur“, fragte er, und ich sah, wie sehr mein
Aussehen ihn erschreckte. Was sollte ich sagen? Nun ja, ich kannte ihn,
allerdings aber nur so gut, wie man den Nachbarn von nebenan kennt. Was ich
aber nicht kannte, das war seine Einstellung zu den politischen Ereignissen
seit dem Januar 1933. Darum konnte ich ihm unter keinen Umständen die Wahrheit
sagen. Auf der Alfredstraße sei ich gestürzt, erzählte ich ihm. Das Fahrrad hätte
ich untergestellt und mich zu Fuß auf den Weg gemacht. Mit der Zeit seien die Schmerzen
unerträglich geworden. Sein Wagen käme mir darum wie gerufen. Nach dieser Erklärung
stellte ich ihm konkret die Frage: „Leo, kannst du mich zur Suarezstraße bringen?“
– „Ist doch selbstverständlich“, antwortete er sofort, öffnete ohne weitere
Fragen die Beifahrertür, half mir in den Wagen und fuhr los.
In unmittelbarer Nähe der Suarezstraße wohnten die Eltern meiner
Braut, zu ihnen wollte ich. „Mensch, Artur, geh bloß sofort zum Arzt“, riet
Leo, als er mir kurze Zeit später aus dem Wagen half und danach seine Fahrt
fortsetzte. Dankbar winkte ich ihm nach. Minuten später war ich bei Genossen.
Sie brachten mich zunächst zu einer Familie in die Annastraße. Hier blieb ich
die Nacht und den folgenden Tag. Nach einem Zwischenaufenthalt in der Goethestraße landete ich bei Genossen
in der Windscheidstraße. Der
Transport von einer Stelle zur anderen war äußerst schwierig. Nur unter
riesigen Schmerzen konnte ich mich fortbewegen. Ein Fahrrad wurde eingesetzt,
um die längeren Strecken zurückzulegen. Während ich auf der oberen Stange des
Rahmens saß, schob man das Rad in den Abendstunden von einem Unterschlupf zum
anderen. Irgendeiner hatte dann in Essen-Kupferdreh einen Arzt aufgetrieben,
der mich in der Windscheidstraße
untersuchte. Er schüttelte den Kopf, legte Verbände an, gab ärztliche
Anordnungen und meinte, es sähe böse mit mir aus. Ständige Beaufsichtigung und
Pflege seien unbedingt erforderlich. Da meine Quartiergeber beide berufstätig
waren, musste man mich wieder anderswo unterbringen.
„Bei mir wird dich keiner
finden, und wenn du fünf Jahre hier wohnen müsstest“, meinte Genosse Rudolf zu
mir, bei dem ich in der Wienenbuschstraße
Stunden später eine neue Bleibe
fand. Hier glaubte ich nach den aufregenden Stunden der beiden letzten Tage
endlich Ruhe zu finden. Tatsachlich folgte auch für mich eine ruhige Nacht.“
Essens Gestapo war inzwischen
nicht untätig gewesen. Hier lief die Fahndung auf Hochtouren, zumal man bemüht
war, die erlittene Blamage schnell wieder vergessen zu machen. In der Öffentlichkeit
war die gelungene Flucht verschwiegen worden, um nicht noch mehr unnötigen Staub
aufzuwirbeln. Der Zufall führte sie dann schließlich auf eine heiße Spur. Ein
strammer SA-Mann hatte Artur Müller, den er in Haft wähnte, irgendwo mit einem
ihm ebenfalls bekannten Begleiter auf der Straße gesehen. Stutzig geworden,
erstattete er Meldung. Drohungen und Ochsenziemer taten ihr übriges, um hier
und da Aussagen zu erpressen. Als Artur Müllers Genosse
Rudolf dem Flüchtling sagte: „Bei mir wird dich keiner finden, und wenn du fünf
Jahre hier wohnen müsstest“, da ahnte er noch nicht, wie eng die Gestapo
bereits ihr Netz um seinen Schützling gezogen hatte.
Schon am anderen Tag
standen dann die Häscher vor der Tür des Verstecks, um ihren entsprungenen Häftling
wieder einzufangen. Die folgenden Einzelheiten der Ereignisse jenes Tages schilderte
Artur Müller: „Nach einer Nacht mit erquickendem Schlaf wurde ich am anderen
Morgen von der Frau meines Genossen Rudolf mütterlich behandelt und verpflegt.
Auf dem Tisch neben meinem Bett waren allerlei für mich gedachte Sachen
aufgestapelt: Obst, Kuchen, Gebäck, Rauchwaren und selbst ein wenig Geld. Ich
fühlte mich wie ein Kind, das seine verlorene Mutter wieder gefunden hatte. „Hier
hast du etwas gegen die Langeweile", sagte mein Quartiergeber und reichte mir
ein Buch. „Zement“, las ich auf dem Buchdeckel. Mir fiel ein, dass ich Jahre
zuvor schon einmal begonnen hatte, diesen interessanten Roman von Fjodor Gladkow
zu lesen. Sofort machte ich mich daran herauszufinden, wie weit ich damals gekommen
war. Während des Lesens ergriff mich die Müdigkeit. Das Buch beiseite legend,
war ich dem Einschlafen nahe.
Da ließ mich das scharfe
Bremsen eines Autos auf der Straße wieder wach werden. Instinktiv witterte ich
Gefahr, zumal mir bekannt war, dass die Wienenbuschstraße
für den Durchgangsverkehr gesperrt war. „Was ist, Artur, hast du einen
Wunsch?" fragte mich der Genosse Rudolf, der auf mein Rufen ins Zimmer
trat. „Schau einmal nach, mir scheint, ein Auto hat vor dem Haus gehalten“, sagte
ich und sah ihm besorgt nach, als er die wenigen Schritte zum Fenster machte.
Kaum hatte ich sein entsetztes Rufen: „Die Polizei, die Polizei‘ gehört, sprang
ich aus dem Bett und schleppte mich unter großen Schmerzen auf die Diele. Hier
stand eine Leiter zum Speicher. Die drohende Gefahr verlieh mir trotz der
schmerzenden Verletzungen solche Kräfte, dass ich über diese Leiter nach oben
gelangte. Hier angekommen, schloss ich die Luke, orientierte mich im
Dämmerlicht und entdeckte in einer Ecke einen Hühnerstall. In ihm suchte ich Zuflucht.
Er lag etwas tiefer, ragte aber mit seinem oberen Teil in den Speicher. Lediglich
mit dem Hemd bekleidet und nur bis zum Nabel sichtbar, bot ich wohl ein
originelles Bild. Sekunden später wurde die Luke geöffnet, und ein Polizeibeamter
betrat den Speicher. In seiner Hand hielt er schussbereit die gezogene Pistole.
Ihm folgte der mir bereits bekannte Gestapo-Mann Willi Oligschläger.
Während mich einer fragte:
„Müller, hast du Waffen bei dir?“, kamen beide vorsichtig und schrittweise auf
mich zu. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, hätte ich eine Schusswaffe
besessen. Aus meiner Hühnerbehausung herausgezogen, schaffte man mich wieder
nach unten. Dabei ging man nicht gerade zärtlich mit mir um. Aufmerksam
bewacht, musste ich meine Kleidung anziehen. Dann legte man mir Handschellen an
und führte mich nach draußen. Hier wimmelte es von Polizei. Als ich sie sah,
konnte ich mir ein ironisches Lächeln nicht verkneifen. „Der Bursche grinst
noch“, meinte einer und drohte: „Warte nur, dir wird das Lachen noch vergehen.“
Auf offenem Wagen, umringt
von zahlreichen Polizei- und Gestapo-Beamten, ging die Fahrt durch das ganze Mühlbachtal
zurück zum Polizeipräsidium, wo vier Tage vorher meine Flucht begonnen halte.
Auf einer Bahre in eine Gefängniszelle getragen, legte man mich hier aufs Bett.
Als kurze Zeit später die Zelle wieder geöffnet wurde, sah ich viele mir bereits
bekannte Gestapo-Beamte, Männer in SA- oder SS-Uniform und einige Zivilisten
auf dem Flur stehen. Zusammen begafften sie mich wie ein Weltwunder.“
In Müllers
Gestapo-Personalakte befindet sich ein Bericht der Leitstelle Düsseldorf an das Geheime Staatspolizeiamt
in Berlin vom 1. Februar 1935, dessen Durchschrift auch dem Sicherheitsamt des Reichsführers
der SS, SD-Oberabschnitt West, in Düsseldorf zur Kenntnisnahme zuging. Darin
wurde die erneute Festnahme des Esseners so geschildert
„Den genannten Artur Müller,
der bereits am 3.1.1935 festgenommen wurde, gelang es im Anschluss an eine
Vernehmung durch einen unglaublich waghalsigen Sprung aus der II. Etage des Polizeipräsidiums
Essens zu flüchten. Am 12.1. 1935, gegen 15.30 Uhr, konnte Müller in der
Wohnung des Schriftstellers Rudolf S. , Essen, Wienenbuschstraße 49, wo er sich verborgen hielt, wieder ergriffen
werden. In der genannten Wohnung lag Müller zu Bett, da er sich bei dem Sprung
durchs Fenster eine Verstauchung beider Beine zugezogen hatte. Das Erscheinen
der Polizei war aber von Müller noch rechtzeitig bemerkt worden. lm Hemd flüchtete
er auf den Dachboden, wo er sich in einer Vertiefung unter Stroh versteckte.
Bei der eingehenden Untersuchung des ganzen Hauses wurde er dann in seinem
Versteck vorgefunden und konnte so seine abermalige Festnahme erfolgen.“
Nachdem Essens
Gestapo-Prominenz und einige andere am Nachmittag des 12. Januar 1935 den
wiedergefangenen Häftling wie ein Weltwunder betrachtet hatten, wurde er vom
Polizeiarzt untersucht, der seine sofortige Überführung in das Essener Gefängnislazarett
anordnete. Hier registrierte man Blutergüsse an den Beinen und im Rücken. Außerdem
wurde festgestellt, dass ein Fuß angebrochen war, und dieser wurde in Gips
gelegt.
Neun Monate später, am 12.
Oktober 1935, begann vor dem III. Strafsenat des Oberlandesgerichts in
Hamm ein Prozess gegen 45 Essener Antifaschisten wegen Vorbereitung zum
Hochverrat. Artur Müller war einer von ihnen. Nach sechs Verhandlungstagen verkündete
der Senatsvorsitzende, Oberlandesgerichtsrat Geck, das Urteil. Für Artur Müller
lautete es auf 6 Jahre Zuchthaus und 5 Jahre Ehrverlust. Es wurde so begründet: „Der
Angeklagte Müller hat sich vom Frühjahr 1934 bis zu seiner Verhaftung sowohl für
die KPD wie auch für den KJVD eingesetzt. Er war Kassierer einer KPD-Zelle und
hat sich außerdem als Lit.-Obmann äußerst rege betätigt. Außer seiner langen
Erwerbslosigkeit und seinem Geständnis stehen ihm keine Milderungsgründe zur
Seite, so dass in Anbetracht des großen Umfangs seiner Tat auf die empfindliche
Strafe von sechs Jahren Zuchthaus erkannt werden musste. Gleichzeitig waren ihm
mit Rücksicht auf die gezeigte ehrlose Gesinnung die bürgerlichen Ehrenrechte
auf die Dauer von 5 Jahren abzuerkennen.“
Am 28. Januar 1941 wurde
Artur Müller aus der Haft entlassen. Bis zur Zerschlagung des Regimes stand er
unter ständiger Polizeiaufsicht. Dann erst begann für ihn wieder das normale
Leben in Freiheit.
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Das Essener Stadtarchiv am Ernst-Schmidt-Platz
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Quelle: Aufsatz aus dem Buch
„Lichter der Finsternis – Widerstand und Verfolgung in Essen 1933 – 1945 / Band
1 – erschienen im Klartext-Verlag) von
Dr. Ernst Schmidt (1924 - 2009)