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Freitag, 31. Dezember 2021

Gurke

Als Polizist und Landesbeamter kann man in ganz NRW eingesetzt werden. Drei von den knapp 50 Behörden durfte der erfolgreiche Polizeischüler zu meiner Zeit als so genannte Wahlbehörde "auswählen". Besonders die großen Polizeipräsidien wie Köln, Düsseldorf, Essen oder die damalige Bundeshauptstadt Bonn benötigten immer Nachwuchs. So verschlug es schon einmal junge Kollegen aus ländlichen Regionen in eine Großstadt.

Was hat denn die Gurke (!) mit Essen (!) zu tun? Beides trifft zu.

1971. Ich hatte Glück. Von meinem Geburts- und damaligen Wohnort Gelsenkirchen-Buer war es nach Essen nicht weit. Damals noch ohne Auto konnte ich meine Wache in der Innenstadt gut mit der Straßenbahn Linie 101 erreichen. Nach dem Nachtdienst bin ich ab und zu eingeschlafen und wurde vom Schaffner an der Endstelle geweckt.

Hinter dieser Mauer beginnt Essens "sündige Meile" mit den 15 Häusern 

Mir teilte jetzt Kollege "Kalle" in Fortsetzung der Geschichten rund um "Stahlstraße“ folgende kleine Anekdote aus den 70er-Jahren mit:

 Ein junger Kollege, den es aus dem weitläufigen, ländlichen Teil von Nordrhein-Westfalen als Oberwachtmeister nach Essen verschlug, hörte gespannt und aufmerksam zu, wenn die älteren Polizisten über die „Gurke“ plauderten. Da sei immer was los. An einem freien Wochenende wollte er seiner Freundin und einem befreundeten Pärchen seinen neuen Dienstort Essen zeigen und, wie er später erzählte, in der „Gurke“ vorbeischauen und ein bisschen abtanzen. Die Vier reisten also mit dem Zug aus Ostwestfalen an und wollten mit dem Taxi ihr Ziel erreichen. Der Taxifahrer habe sich über das gewünschte Fahrtziel gewundert. "Gurke" in  Damenbegleitung? Jeder Essener Droschkenführer kannte natürlich den Ortsbegriff. Fuhr er ihn doch mehrmals vom Hauptbahnhof besondes in den Abendstunden. Aber er dachte wohl: „Auftrag ist Auftrag – Fahrt ist Fahrt.“ Also ging es quer durch die Innenstadt in Richtung Stahlstraße. Er ließ seine Fahrgäste in der Nordhofstraße kurz vor dem eigentlich Endziel „Gurke“ aussteigen. Die zwei Pärchen gingen schnurstracks dort hin und wurden direkt hinter der Mauer mit fliegenden, rohen Eiern empfangen. Denn Frauen außerhalb des Gewerbes waren hier nicht willkommen. Niemand habe ihm erklärt, was der Ort "Gurke" in Essen bedeutet. Er habe stets an eine Diskothek gedacht.“

 P.S. Hinter das Geheimnis der Namensfindung "Gurke" bin ich nie gekommen. Und dann gibt es noch den "Eierberg" unserer Nachbarstadt Bochum. Warum der so heißt? Flogen da auch mal die Eier?  Vielleicht kennt jemand die Antworten. 


 

Mittwoch, 29. Dezember 2021

Claude und andere Mädchen

Vorwort:

Ich habe einen Mitautor gewonnen. Nach den Veröffentlichungen meiner Polizeigeschichten rund um die Stahlstraße bekam ich gestern den folgenden Tatsachenbericht von meinem Ex-Kollegen Wolfgang Dinsing. Der 73-Jährige war lange Jahre bei der Essener Kripo, anfangs auf der Kriminalwache, später beim Einbruchskommissariat als Leiter des Drogenkommissariats. Die letzten Jahre war der Erste Kriminalhauptkommissar Chef der Todesermittler.

Claude und andere Mädchen von Wolfgang Dinsing

Anfang der 1970er-Jahre. Claude arbeitete in der Essener Stahlstraße als Domina. Sie war lesbisch und in jungen Jahren französische Meisterin im Rennradfahren gewesen. Ihre Zuhälterin war eine Hausfrau aus Bredeney. Es lag ein Haftbefehl aus Badem Württemberg gegen sie vor. Vom Amtsgericht Bad Säckingen. Wegen sexueller Nötigung. Zur Vollstreckung des Haftbefehles wurden zwei besonders moralisch gefestigte Beamte der „Fahndung“ entsandt. Einer davon war ich. Der Grund laut Haftbefehl: Claude hatte eine Schönheitstänzerin in einem Nachtclub in der Kleinstadt in der Garderobe eingesperrt und sexuell belästigt. Sie hatte ihr Opfer an diversen, im Haftbefehl detailliert aufgeführten Körperstellen, gefasst. Konfrontiert mit den Vorwürfen, hob sie die Hand bis zu ihrem gelockten, blonden Haarschopf, strich dadurch und erklärte im französischen Akzent: “Was sollte isch machen Herr Kommissar, war isch bis hierhin voller Trieb!“ Der Amtsrichter setzte den Haftbefehl außer Vollzug. Claude musste sich allerdings regelmäßig bis zum Gerichtstermin bei der Polizei melden.

Irgendwann kam sie zur Kriminalwache ins Polizeipräsidium und hat sich fürchterlich über die Kollegen der Schutzpolizei der „Gerlingwache“ geärgert. Sie war mit ihrem Ferrari Dino über eine Verkehrsinsel der Hindenburgstraße gerast und hat sich dabei die Ölwanne aufgeschlitzt.  Die Polizisten am Unfallort wollten ihr nicht helfen. Keiner wollte das Öl auf der Straße wegmachen und keiner wollte: „Die scheiß Ferrari haben.“ Auch nicht geschenkt. Hätte sie mich mal als Liebhaber alter und mondäner Autos gefragt.  Der italienische Sportwagen stand dann mehrere Monate auf dem kleinen Hof hinter dem Haus-Nr. 58 der Stahlstraße.

Die Stahlstraße  - im Hintergrund das Gebäude der Funke Medien Gruppe - Aufnahme aus 2018

Die nächtlichen Streifenfahrten führten uns regelmäßig durch die Straße des Dirnenwohnheims mit den 15 Häusern. Natürlich ohne unsere Kolleginnen der Kriminalwache. Es soll nämlich den Fall gegeben haben, dass die Dirnen mit ihren Stöckelschuhen auf das Wagendach geschlagen hätten, als sie eine Frau  im Auto entdeckten. Und wir von der Kripo fuhren nun einmal Zivilwagen. Wie hätten wir die Beulen erklären sollen?

Wenn die Huren in den Fenstern saßen, fragten sie uns schon mal, ob wir ihnen von „Mary’s Imbiss“ am Großmarkt etwas besorgen könnten. Klar, machten wir. Allerdings mit Hintergedanken. Wir sind dann mit den Bratwürsten im Beutel zurückgefahren und so haben wir einiges über ihre Zuhälter, ihre Brutalität oder andere kriminelle Dinge erfahren.

Ab und zu blieb ein Freier nach dem Sex auch mal liegen. Nicht vor Anstrengung oder weil er nicht nach Hause wollte, er war tot. „Jeden Sonntagmorgen kommt er zu mir. Er war so lieb. So großzügig. Er war mein Stammkunde“, erzählte uns eine Prostituierte in einem Todesermittlungsfall. Jetzt war der Stammkunde im “Freierhimmel.“  Kurz vor Abtransport der Leiche bat uns die Liebesdienerin noch: „Ihr müsst seine Badehose nass machen.“ Was sie dann aus uns unerfindlichen Gründen selbst übernahm. Als wir seiner Familie die traurige Nachricht vom Ableben des Haushaltsvorstandes  persönlich überbrachten, war die Reaktion unterschiedlich. Die Tochter: „Donnerwetter, das hätte ich dem Alten gar nicht mehr zugetraut!“  Der Sohn: „Das hat doch sicher eine Mörderkohle gekostet!“ Und die Ehefrau: „Und ich dachte, er geht sonntags immer zum Schwimmen!“ Aha, deswegen die nasse Badehose. Man kennt eben seine eigenen Angehörigen doch nicht so gut wie man meint.

Das trifft auch auf eine andere „Familie“ zu – eher eine Großfamilie. Nachdem ein älterer, sehr gesetzter Herr auf einer schwarzafrikanischen Dame des Gewerbes verstorben war, sichten wir in seiner abgelegten Kleidung nach Personalpapieren. Und schnell war die Kontaktadresse gefunden. Eine Firma mit dem Namen „Domo-Obst“. Was lag näher, als dort anzurufen und die traurige Botschaft vorsichtig und behutsam mitzuteilen.  Unser Erstaunen war groß, als sich unter der Telefonnummer ein Domprobst (!) meldete. Nachdem er eine Minute, wahrscheinlich aus Pietät und Takt, geschwiegen hatte, erklärte er uns dann, dass es sich bei dem Verstorbenen um den örtlichen Vertreter des Bistums handele, der einen Besuch in der Nachbardiözese machte und wohl auf Abwegen geraten war.


Dienstag, 28. Dezember 2021

Sehleute

Über einer der ältesten Laufstraßen Deutschlands habe ich an anderer Stelle ja schon häufig berichtet. Der Name passt zu Essen, wie die Faust aufs Auge. Die Stahlstraße. Wie sagte einst der größte Verbrecher aller Zeiten: „Jungs müssen hart wie Kruppstahl sein.“ Aber das ist ein anderes Thema.

In der Stahlstraße boten Frauen ihre Dienstleistungen an. Und das seit über 100 Jahren. Eben – das älteste Gewerbe der Welt.

Im Haus unten links befand sich die Wache - rechts die Häuser hinter der Mauer

Die Polizei hatte bis Anfang der 1970er-Jahre im letzten  Mehrfamilienhaus im Erdgeschoss auf der Nordhofstraße eine so genannte Nebenwache. Zu tun gab für die Beamten immer etwas. Schlägereien, Zahlungsstreitigkeiten oder Beischlafdiebstahl. In der Stahlstraße hielten sich auch oft Männer auf, die einfach nur gucken wollten, denn die Dirnen boten sich freizügig gekleidet ihrer Kundschaft an. Entweder direkt auf der Straße oder in den beleuchteten Fenstern. Im Polizeijargon wurden die Gaffer  „Sehleute“ genannt.

Blick in die Stahlstraße - links im Bild  ein "Sehmann"

Wie Mücken das Licht zog das Rotlicht auch Typen aus der Essener Unterwelt an. Manche hatten hier sogar ihren Zweitwohnsitz. Oder sie kamen zum Abkassieren.

Ab und zu führte die Polzei Razzien durch. Jetzt fand ich in historischen Unterlagen polizeiliche Merkzettel für die Einsatzkräfte aus der 1960er-Jahren.

 U. a. heißt es in den Schreiben: „Unterrichtung der (Sehleute) durch Lautsprecher über die polizeiliche Kontrolle...während der Zeit der Kontrolle halten sich mehrere Beamte in der Dirnenstraße auf auf und sorgen je nach Lage für Ruhe und Ordnung. Erforderlichenfalls müssen die letzten "Sehleute" mit Gewalt zur Kontrollstelle gebracht werden…“

 Lautsprecherdurchsage für die Razzia in der Dirnenstraße

 
Merkzettel für die Razzia in der Dirnenstraße

Merkzettel für die Durchsuchung der einzelnen Dirnenunterkünfte


Freitag, 17. Dezember 2021

Weyerlinge

Die Älteren kennen sie noch - die „Weyerlinge“. Diese Bezeichnung für lebensältere Kollegen Ende der 1960er-Jahre hielt sich lange Jahre bei der Polizei. Später kamen noch die „Wanniger“ hinzu. Aber das ist ein anderes Thema.

Gerade nach dem Zechensterben im Ruhrgebiet wurden viele „Weyerlinge“ eingestellt, aber auch aus anderen Arbeitsverhältnissen gingen gestandene, berufserfahrene Männer zur Polizei.  Der unfreiwillige Namensgeber für sie war der damalige NRW-Innenminister Willi Weyer, der für die Anstellung und verkürzte Ausbildung sorgte. 

Innenminister Willi Weyer (rechts) bei einer Sportlerehrung im PSV-Heim
Ich habe noch mit einigen Dienst versehen. Gerne. Einer von  ihnen war Nick T.,  mindestens 190 cm groß, fast zwei Zentner schwer, mit Händen groß wie „Pannschüppen“. Wo er hinlangte, wuchs kein Gras mehr, hieß es auf der „Gerlingwache“. Bei Kneipenschlägereien - gibt es heute gar nicht mehr - herrschte Ruhe, wenn Nick auftauchte. Mit ihm fuhr jeder gerne auf Streife. Unter den „Weyerlingen“ befanden sich auch welche, die nicht so gerne an der Schreibmaschine saßen. Aber diese Schlitzohren waren mit allen Wassern ihrer Lebenserfahrung gewaschen. An einige Sprüche kann ich mich noch gut erinnern. Walli N. zu mir: „Junge, Du schreibst, ich schlag. Ein anderer: “Pass mal auf! Dein Schulbankwissen kannste mal ganz schnell hier vergessen“, als ich anmerkte, dass ein A-Unfall doch nur bis zur geschätzten Schadenssumme von 1000 Mark gelte. Oder: „Wenn ich mit einem Bürger spreche, hälst Du dich schön geschlossen. Ist das klar?“ Der ehemaliger Bergmannsknappe und gebürtige Berliner Atze: „Jetzt zeige ich dir, wie ich aus einem Vorgang drei Tätigkeiten mache. Ein Parkverstoß gleich zwei Zahlkarten und eine Owi (Anmerkung: Ordnungswidrigkeitenanzeige).“ Die Verkehrswissenschaftler Meier, Stiefel, Jacoby lassen grüßen. Sie erklärten der Polizeipolitik damals auf Kosten der Autofahrer, was zu tun sei, um Verkehrsunfälle zu vermeiden. Und viele Kollegen schraubten so an ihrer Karriere und sangen gerne die Stille-Nacht-Textzeile des Weihnachtslieds ("Gottes Sohn, o wie lacht") textlich abgewandelt in: "Owi lacht." Und wer sich nicht an die Vorgaben hielt, wurde gescholten („Schimpferlass“). Es wurde alles verkehrstechnisch auf vier Rädern gejagt, was nicht schnell auf die Bäume kam. Unser erster Wach- und Einsatzleiter (WE) entließ uns im Nachtdienst immer mit dem Spruch: „Wir sind heute wieder blutrünstig.“

Jetzt las ich in der NRZ-Rubrik „Heute vor 50 Jahren“ einen Artikel, in dem der Innenminister Willi Weyer erwähnt wurde. In Duisburg traf der FDP-Politiker die Polizeifamilie von Kriminalhauptmeister a. D. Herbert Querhammer. Seine vier Söhne gingen zur Polizei. Ich stamme ebenfalls aus einer Polizeifamilie mit vier Jungs. Von uns gingen nur zwei zur Polizei. Der eine als Quereinsteiger zur Kripo, ich durchlief die normale Ausbildung, 1 Jahr Grundlehrgang Bork, 1 Jahr Bereitschaftspolizei Bork, ein halbes Jahr Praxis  als „Oberwachtmeister im Einzeldienst“ in Essen, Anstellungslehrgang in Stukenbrock. Hauptwachtmeister. Fertig. Damals noch nicht volljährig, aber mit allen Möglichkeiten der staatlich legitimierten Gewaltanwendung ausgestattet - bis hin zum Schusswaffengebrauch.  Auf Familienfeiern, gab es immer eine Menge zu erzählen, besonders wenn es um die Besonderheiten von Schutzpolizei (S) und Kriminalpolizei (K) ging. Später kam mein Sohn Axel noch als Düsseldorfer Schutzmann hinzu.

Mein Vater Walter Klein (Bildmitte) mit Kollegen in der Schalker "Glückaufkampfbahn"

Mein Vater arbeite nach seiner Zeit im Einzeldienst auf der Sani-Stelle. Er betonte immer, dass das polizeiärztlicher Dienst hieße. Im Krieg war er Sanitäter bei der Marine auf der „Deutschland“ und mit ihr auch untergegangen. Die „Weyerlinge“ wurden in den einzelnen Behörden auf Polizeidiensttauglichkeit ärztlich untersucht und eingestellt. Bei einem schaute mein Vater großzügig über ein Handicap weg, weil der Bewerber im Polizeisportverein Handball spielte und sein Vater ebenfalls Polizist war. Manfred K. war nachtblind. An anderer Stelle berichtete ich davon, dass bei mir ein Zentimeter an der Mindestgröße fehlte. Auch dabei hatte mein Vater die Hände im Spiel. Er kannte den Kollegen der Sani-Stelle in Essen am Maßband sehr gut. Dem will ich jetzt aber keine Blindheit vorwerfen. Er hat eben großzügig geguckt.

Montag, 13. Dezember 2021

Vorher – nachher

1990 kamen wir mit jungen Cops in New York in lockerer Atmosphäre und Körperhaltung ins Gespräch. Auf dem ersten Foto zu sehen. Als ich ihnen ihren Gesprächspartner als den Essener Polizeipräsidenten („Police commissioner“) Michael Dybowski vorstellte, nahmen sie spontan stramme Haltung an. 

Info: Der gebürtige Berliner (Jahrgang 1941) war von 1988 bis 2000 Polizeipräsident von Essen und danach bis zu seiner Pensionierung 2006 Polizeipräsident in Düsseldorf. Michael Dybowski ist der Polizei weiterhin eng verbunden. Er ist Vorsitzender des Vereins „Geschichte am Jürgensplatz e. V. – Verein zur Aufarbeitung der Düsseldorfer Polizeigeschichte“

Samstag, 11. Dezember 2021

"Rentnercops" rollen ungeklärte Morde auf

28 pensionierte Polizeibeamte im Alter von 62 bis 65 Jahren werden sich künftig mit ungeklärten Tötungsverbrechen („Cold Cases“) aus den letzten fünf Jahrzehnten befassen. Das Landeskriminalamt hat in NRW eine in Deutschland einmalige Einheit aufgestellt und jetzt der Öffentlichkeit vorgestellt.Hier geht’s zur Pressemitteilung: https://www.im.nrw/cold-case-ermittler-beginnen-ihre-arbeit

Die erfahrenen Todesermittler - Foto: LKA NRW

Chef der neu gegründeten Einheit ist der Essener Kriminaldirektor Colin B. Nierenz. In einem Interview erklärt er, wie genau die Arbeit seiner pensionierten Polizeikollegen aussieht. Der 45-Jährige und dreifache Familienvater ist in Essen auch in anderer Funktion kein Unbekannter. Er ist Theologe, so genannter Prädikant oder Laienprediger, an der Essener Auferstehungskirche. Und so gehören Taufen, Hochzeiten und Kindergottesdienste zu seiner ehrenamtlichen Tätigkeit. Aber auch Beerdigungen, wobei wir wieder bei der Hauptaufgabe von Colin B. Nierenz wären.  Hier geht’s zum Interview: https://lka.polizei.nrw/.../wir-suchen-nicht-alte-fehler...

Kriminaldirektor Colin B. Nierenz im Interview  - Foto LKA NRW

 

Montag, 6. Dezember 2021

Advent, Advent – Nr. 6 – Brasilien, Kolumbien, Indien

 

Ich lese gerne die letzte Seite meiner Tageszeitung. Da heißt es „Heute vor 50 Jahren…“ und stelle fest, dass die Welt immer schon ein bisschen aus den Angeln geraten war. Indien und Pakistan führten 1971 einen erbitterten Krieg. Die Schlagzeile in der NRZ: „Offener Krieg in Asien“

Damals existierten noch Westpakistan (heute Pakistan) und Ostpakistan (heute Bangladesch). Die hatten sich kriegerisch in der Wolle. Geographisch lag Indien genau dazwischen. Das schlug sich auf die Seite von Ostpakistan und griff im Westen an. In die Geschichte ging dieser Krieg 1971 als Bangladesch-Krieg ein. „Die Zahl der Todesopfer wird auf mindestens 300.000 bis zu 3 Millionen geschätzt. Es kam zu massenhaften Vergewaltigungen […] Laut Wikipedia wird die Zahl auf 200.000 geschätzt. „Es gab völkermordähnliche Massaker an Teilen der Zivilbevölkerung durch die Pakistanische Armee. Noch Jahrzehnte später wurden immer wieder Massengräber entdeckt.“ Ja, es wird nicht immer schlechter. Es war immer schon so.


Warum erzähle ich das? Weil ein Drittel der Kaffeeröstung am Nikolaustag aus Indien stammt (40 % Robusta und 60 % Arabica).

Wir haben zwar schon nach Mitternacht. Jetzt trinke noch eine Tasse dieser Mischung aus Brasilien, Kolumbien und Indien und gehe dann ins Bett. Tipp: Das soll wie ein Schlaftablette wirken. Zwischen Trinken und Zubettgehen darf allerdings nicht zu viel Zeit vergehen. Also, schnell: husch, husch ins Körbchen.

Meine Genussschulnote lautet am Nikolaustag:


 

Sonntag, 5. Dezember 2021

Advent, Advent – Nr. 5 – Papua Neuguinea

Heute wird es schwer. Der Türchen-Kaffee Nr. 5 kommt vom anderen Ende der Welt, der drittgrößten Insel nördlich von Australien. Papua Neuguinea. Dorthin dauert der Flug fast einen Tag. Der Name der Röstung gefällt mir allerdings: Café Libertad  - Kaffee Freiheit. Aber frei waren die Bewohner lange nicht. Denn in der Kolonialzeit bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gab es von Europäern, Australiern, Amerikanern und Asiaten die typischen Machtkämpfe auf Kosten der Ureinwohner. Die Deutschen waren auch mal dort aktiv. Mittlerweile ist Papua-Neuguinea eine parlamentarische Demokratie, aber die englische Königin hat immer noch den Hut, sorry Krone, auf. In dem Inselstaat mit 1400 kleinere Inseln drum herum, die teilweise zu Indonesien gehören, gibt es viele Volksgruppen mit sage und schreibe 839 Sprachen und Dialekten laut Wikipedia.

Wenn es den Menschen nicht gut geht, steigt die Kriminalität. So warnt auch das Auswärtige Amt Reiselustigen zur Vorsicht: „In Papua-Neuguinea kommt es immer wieder zu Unruhen, vor allem in Port Moresby, Lae, Mount Hagen und den Hochlandprovinzen und dort zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Clans.“

Einer der Exportgüter ist der Kaffee, der heute in meiner Tasse handaufgebrüht landete. Er ist sehr würzig, stark und nicht so mein Ding.

So gibt es heute am 2. Advent als Genussschulnote eine „Polizei-Zwei“, so die hieß zu meiner Zeit auf der Polizeischule, also:


 

 

Horst, Helmut, Richard und Pommes-Erwin

„Und aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen.“ Er schoss aus halbrechter Position von der Strafraumgrenze aufs ungarische Tor. Was folgte wissen wir. „Tooor! Toor! Toor! Toor!“, schrie Herbert Zimmermann ins Mikrofon.  Deutschland ist Weltmeister - 1954. Am vergangenen Freitag starb der letzte Fußballer der Mannschaft Horst Eckel im Alter von 89 Jahren.

Und gestern sah ich zufällig auf Seite 310 das Foto von Helmut Rahn in dem Buch „Achtung! Gruga an alle!“ meines Polizeikollegen Frank Kawelovski.

Helmut Rahn mit POW Richard Frohne irgendwo in Essen

Neben der Fußballikone von Rot-Weiss Essen, die uns nach dem Krieg durch seine beiden Tore das Wunder von Bern ermöglichte, sieht man auf dem Foto Polizeioberwachtmeister Richard Frohne Mitte der 1950er-Jahre.

Ihn lernte ich etwa 20 Jahre nach dem Aufeinandertreffen mit Helmut Rahn während meiner Ausbildung zum gehobenen Dienst in der praktischen Unterweisung bei der Kripo kennen. Richard war da schon Todes- und Brandermittler beim 1. Kommissariat. Er zeigte mir die schwierige und schmutzige Arbeit nach dem Brand einer Tennishalle in Kettwig, die bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Er zeigte auch seinen schönen Stadtteil Werden im Essener Süden und in der Mittagspause den Ort der besten Curry-Wurst im Dorf bei „Pommes  Erwin“ in der Grafenstraße.

Der junge Richard Frohne im Streifenwagen

Ironie des Schicksals. Genau hier wurde 1986 Erwin, den manche auch Porno-Erwin nannten, Opfer eines Raubmordes. Es war mein erster großer Medienfall in der neuen Funktion als Leiter der Pressestelle.

Das Grab von Richard Frohne  auf dem Bergfriedhof in Fischlaken
Und ab und zu besuche ich jetzt Richard auf dem Bergfriedhof in Fischlaken. Ich bin ihm immer noch dankbar, dass er mir diesen Teil im Stadtgebiet so nahe gebracht hat. Landschaftlich fast wie im Urlaub. Und das jetzt schon seit 40 Jahren. 

2009 erschienen - "Achtung" Hier Gruga an alle!"
 

 Kawelovski Eigenverlag (Buch) Infos: https://www.polizeigeschichte-infopool.de/

 

Samstag, 4. Dezember 2021

Advent, Advent – Nr. 4 – Kolumbien II

Die Kaffeeröstung im Adventskalendertürchen ist heute 100 % Kolumbien und 100 % Arabica. Und weil ich vor zwei Tagen auf die hohe Kriminalitätsquote und den Fußballspielermord in Kolumbien hingewiesen habe, leiste ich heute Abbitte und mach das Glas halbvoll.Es gibt einige Gründe, das südamerikanische Land als Tourist zu entdecken. In einem Reiseführer habe ich gelesen, warum man das südamerikanische Land unbedingt besuchen sollte.

Heute 100 % Kolumbien im Kaffeepott

Kolumbien heißt auch: auf den Spuren der Entdecker, freundliche Bevölkerung, Städte voller kultureller Reichtümer, bergische Anden und  Amazonas und - last but not least - ausgezeichneter Kaffee.

Das kann bestätigen, denn es gibt zum ersten Mal am 4. Tag  von mir die Genussschulnote:



Freitag, 3. Dezember 2021

Advent, Advent - Nr. 3 - Guatemala

Meine Barista-Reise geht weiter. Heute im Türchen, sorry Tütchen, befinden sich 13 Gramm „Café León aus Guatemala - 100 % Arabica“.

Was fällt mir eigentlich zu dieser Röstung ein? Spontan -  „León – Der Profi“ einer meiner Lieblingsfilme trotz Mord- und Totschlag und viel Knallerei, was eigentlich nicht so mein Ding ist. In diesem Streifen halte ich sogar zum sympathischen Auftragskiller, gespielt von Jean Renó, und seiner kleinen Freundin Mathilda (Natali Portman), die der bösen, koruppten New Yorker Polizei heftig einheizen. Und dann noch der Drehort in meiner Lieblingsstadt. Film-Schulnote: sehr gut.

G wie Guatemala ist gut bei dem Lernspiel „Stadt, Land, Fluss“. Griechenland weiß jeder, Guatemala bringt meist 20 Punkt ein.  Ein Wirtschaftsfaktor des kleinen Landes in Mittelamerika sind Bananen und, und? Richtig Kaffee.

Ich gebe der Kaffeeröstung zum 3. Advent die Genussschulnote mit einem großen +:



 

 

 

Der "Sex-Kommissar" - Hörenswerter Podcast

„In übler Erinnerung ist mir noch aus dieser Zeit der damalige Wachdienstführer unserer Dienstgruppe […], der mit seiner harten und zynischen Art die jüngeren Beamten in Angst und Schrecken versetzte. So war es für ihn Normalität, Jüngere, bei denen er etwa einen Fehler beim Fertigen der Straf- oder Unfallanzeige, auch vor den Ohren unbeteiligter Bürger anzuschreien und Übel zu beleidigen“, so beschrieb eine der ersten NRW-Kolleginnen 1982 einen Beamten der „Gerlingwache“ in dem Buch „Achtung! Hier Gruga an alle!“ von Frank Kawelovski.

Ich kann ihr nur beipflichten. Auch ich habe mit dem besagten Beamten auf „Berta“ Dienst versehen. Unser erstes Aufeinandertreffen 1971 war äußerst unangenehm. Er pöbelte mich –  damals 18 Jahre alt und Oberwachtmeister – lautstark an, weil ich ein goldenes Mehrkampfabzeichen an der Uniform trug. „Mach den Scheiß ab. Das will hier keiner sehen.“ Er war damals Polizeimeister und einer, der häufig für Unruhe sorgte. Ein richtiger Stinkstiefel.

In Abwandlung des Textes („Der Friederich, der Friederich…“) aus dem Struwelpeter hieß es damals unter uns: „Der Roderich, der Roderich, der ist ein wahrer Wüterich.“ Keiner wollte so recht mit ihm auf Streife fahren, denn er langte schon mal schnell zu, gelinde gesagt. 

Das Gebäude der alten "Gerlingwache" - heute Teil der Uni
So wurde er später zum Polizeioberkommissar übergeleitet und Wachdienstführer auf der Dienstgruppe von Monika Schumann. Dort hatte er das Sagen und nicht der eigentliche Chef, erzählte man in unseren Kreisen über Schutzbereichsgrenzen hinweg.

Der Oberkommissar bekam in den 90er-Jahren seine Strafe weg. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als so genannter Sex-Kommissar von den Medien bezeichnet ging er in die Polizeigeschichte ein. Vier Jahre Haft lautete das Urteil, weil er seine Macht als Bezirks- und Ermittlungsbeamter zu perversen, sexualisierten Handlungen an einer kranken Frau „auslebte“.

Monika Schumann: „Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich mich aufrichtig freute, als ich von seiner Festnahme hörte. Ein anderer Kollege: „Wir haben auf dem Flur getanzt, als wir hörten, dass er in den Knast muss.“

Über das Strafverfahren berichtet Stefan Wette in seinem Podcast „Der Gerichtsreporter“. Er war als junger Journalist Polizeireporter und schreibt seit mehr als drei Jahrzehnten Gerichtsreporter.

Dieser Beitrag ist wirklich hörenswert, teilweise skurril, wenn Stefan Wette den angeklagten „Polizeikommissar“ beschreibt. Dieser hat übrigens seine Taten nie zugegeben und deshalb die gesamten vier Jahre abgesessen.

 https://www.waz.de/podcast/gerichtsreporter/sex-statt-strafverfahren-id233915167.html

 

Donnerstag, 2. Dezember 2021

Advent, Advent - Nr. 2 - Kolumbien

Heute gibt es die eine spezielle Kaffee-Weihnachtsröstung aus Brasilien und Kolumbien – 100 Prozent Arabica. 

Kolumbien? Da sind wir ja schon wieder bei Sicherheitsfragen und Kriminalität. Das Land in Südamerika mit knapp 60 Millionen Einwohnern ist nicht nur für seinen Kaffee bekannt, sondern geriet auch immer wieder durch die hohe Kriminalitätsrate in Schlagzeilen. Ich erinnere mich noch an den Mord vom Fußballnationalspieler Andrés Escobar, der nach seinem Eigentor bei der Fußballweltmeisterschaft im Spiel Kolumbien gegen die USA 1994 nach seiner Rückkehr in das Heimatland erschossen wurde. Der Täter war Fahrer und Bodyguard von einem Drogenboss. Die Glückspielmafia soll hinter dem Auftragsmord gestanden haben. Auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes wird nach wie vor vom Besuch gewisser Städte und Regionen Kolumbiens abgeraten. 

 
Da wenden wir uns doch lieber wieder den schönen Dingen des Landes zu. Zum Beispiel dem Kaffeeanbau. Rund 15 Prozent der Exporterlöse erzielt Kolumbien durch Kaffee. Früher waren es noch mehr. Vor 30 Jahren war Kolumbien nach Brasilien noch weltweit der zweitgrößte Exporteur.

In meinem heutigen Advents-Tütchen Nr. 2 kommt es dann zur Vereinigung der beiden Nachbarländer. Den Becher auf dem Foto habe ich von meinen mazedonischen Freunden geschenkt bekommen. Er hat den größten Henkel all meiner Kaffeebecher. Ob die Menschen in dem kleinen Balkanland so große Hände haben? 

Das Test-Ergebnis der heutigen Weihnachtsröstung Nr. 2 (Kolumbien/ Brasilien - Arabica). Sie ist verdammt lecker. Meine Genussschulnote deshalb:


 

 

 

Mittwoch, 1. Dezember 2021

Advent, Advent - Kaffeduft durch unser Haus

Zugegeben ich bin eine Kaffeetante. Schon in frühester Jugend trank ich gerne das dunkle Getränk. Damals noch mit Milch und Zucker. Heute lediglich mit Milch oder aufgeschlagener Sahne. Meine Mutter erzählte gerne davon. Auch als ich einmal die Kaffeetasse auf der Küchenbank sitzend mit den Füßen umwarf. Ich muss da noch sehr klein gewesen sein.

Später auf der Polizeiwache lief die Kaffeemaschine die gesamte Schicht. Dafür wurde zu Beginn immer jemand bestimmt. Als Geschmacksverstärker kamen noch LORD, HB, Ernte 23, für die ganz Harten Reval ohne Filter und für die Superharten Gauloises, dazu. Polizeimeister Clemens B. rauchte HB („Wer wird denn gleich in die Luft gehen?") in der großen Geschenkpackung im Hartkarton. Die weiße unbedruckte Rückseite diente ihm als Notizblock. Er bekam sogar eine Unfallskizze darauf. Aber nur solange bis jemand mal die leere Packung entsorgte, damit auch seine behördlichen Aufzeichnungen der "Gerlingwache". Zurück zum Kaffee.

1.12.2021 - Selección Especial (bio)

Gestern bekam ich von meiner Tochter Nina einen ganz besonderen Adventskalender. Jedes Türchen oder in diesem Fall Tütchen enthält eine andere Kaffeesorte. Darauf steht: „Nächstenliebe. Wärme. Genuss. Mit diesem Kalender unterstützt du die Inklusion von Menschen mit Behinderung. Diese haben alle 24 Sorten mit Liebe in handwerklicher Arbeit schonend geröstet.“ So ist sie, unsere Nina. Immer die Welt rettend.

Ab heute werde ich bis Weihnachten zum Barista ausgebildet. Am ersten Tag – natürlich wie immer frei nach meiner „Omma“ Lina handaufgebrüht - gab es SELECCIÓN ESPECIAL (BIO) aus Honduras & Neugiuinea – 100 Prozent Arabica. Meine Genussschulnote am ersten 1. Advent:


 Ich brauche ja noch Luft besser Kaffeduft nach oben. Bis morgen. 

 

Dienstag, 30. November 2021

Kinski

Klaus Kinski wäre im November 95 Jahre alt geworden. Der Schauspieler war ein Zerstörer. Er zerstörte sich selbst, er zerstörte die Seele seiner Tochter Paola. Schon als 5-Jährige bis in Erwachsenenalter hinein soll er sie missbraucht haben, schrieb sie in ihrem Buch „Kindermund“  2013. Sein aufbrausendes, beleidigendes  Auftreten verstörte viele seiner Schauspielerkolleginnen und –kollegen. Aber auch vor seinem Publikum, Regisseuren und Journalisten machte er nicht Halt.

Seine Spielkunst, insbesondere in den Edgar-Wallace-Filmen in den 1960er-Jahren, wurde nicht angezweifelt.

Den Kunstdruck habe ich vor den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs gekauft. Danach abgehängt.

   

 



Montag, 29. November 2021

„Fahrradpolizei“

Der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC e.V.) hat die Polizei Essen mit ihrem historischen Dienstgebäude als fahrradfreundlichen Arbeitgeber ausgezeichnet. In dem denkmalgeschützten Präsidium an der Büscherstraße arbeiten rund 400 Landesbedienstete. Rund 15 Prozent davon kommen mit dem Rad zum Dienst. An ihrem Arbeitsplatz finden sie neu installierte Fahrradständer mit Parkraum für Lastenräder, einen Trockenraum, Ladestationen für E-Bikes sowie eine kleine Reparaturwerkstatt vor. 

Polizeipräsident F. Richter (2. von rechts) freut sich über die Auszeichnung

In Essen gibt es mittlerweile 17 fahrradfreundliche Arbeitgeber, betonte der Oberbürgermeister Thomas Kufen (3. von links) beim heutigen Pressetermin. Ebenso stolz äußerte sich Polizeipräsident Frank Richter, der durch eine fahrradfreundliche Infrastruktur an allen Polizeigebäuden den Anteil seiner radelnden Kolleginnen und Kollegen auf etwa 25 Prozent steigern möchte. 

Jetzt fehlt nur noch eine starke, aktive Polizeifahrradstaffel und der Verbleib im Polizeipräsidium, denn es wurden Auszugsabsichten öffentlich. 

Fahrradfreundliches Dienstgebäude - das Präsidium im Justizviertel


 

Sonntag, 21. November 2021

Gedenken

Heute ist Totensonntag, ein stiller Feiertag. Evangelische Christen denken an ihre Verstorben. Ich denke an einen ganzen jungen Kollegen.

Auf dem Foto rechts sitzt Andreas G. auf dem Funktisch der Polizeiwache in Essen-Steele. Hier war 1978 seine erste Station bei der Polizei als junger Polizeihauptwachtmeister. Andreas wurde nur 25 alt.
POLIZIST (25) IN DISCO ERSTOCHEN, hieß es Anfang der 1980er-Jahre in den Zeitungen. Hier kam es zunächst zum Streit mit einem anderen Gast, weil Andreas ihn unabsichtlich angerempelt haben soll. Es entwickelte sich ein Wortgefecht. Sein Kontrahent verließ die Disco, kam mit vier Freunden zurück. Sie gingen auf Andreas und seinen Freund los. „Sie drohten dem Polizisten erst mit Fäusten, dann blitzten Messer. Stiche in Brust, Bauch und Hals. Sein Freund wurde lebensgefährlich verletzt“, schreibt eine Zeitung.
Andreas - mit 25 Jahren aus dem Leben gerissen
 Vier der Täter konnten kurz nach der Tat festgenommen. Der fünfte wurde bundesweit gesucht. Der Ausgang des Strafverfahrens in mir nicht bekannt. Viele Kollegen unserer Wache nahmen an der Beisetzung in Kamen teil.
Ich habe als junger Wachdienstführer nur wenige Monate mit Andreas zusammengearbeitet. Er war ein ganz ruhiger, eher zückhaltender, netter Kollege. Sein Tod war für uns alle ein Schock.

Donnerstag, 18. November 2021

ALDI-Gründer Theo Albrecht vor 50 Jahren entführt

Vorwort: 

In polizeieigener Sprache wird die Entführung von Theo Albrecht, schon damals einer der reichsten Männer Deutschlands, im folgenden Artikel erzählt. Er erschien im Jahrbuch der Essener Polizei. Die kleineren kriminalpolizeilichen Fehleinschätzungen und Fahndungspannen bleiben natürlich außen vor und wurden nur in feuchtfröhlicher Runde und Bierlaune intern erzählt. Viele Kripobeamte antworteten später bei ihrer Pensionierung auf die Frage nach ihrem größten Fall: „Die Albrecht-Entführung.“ Die wenigen letzten Zeitzeugen halten sich mit ihren Erinnerungen immer noch diskret zurück. Heutzutage würde die Polizei viel professioneller den Kriminalfall bearbeiten. Die technischen, taktischen Möglichkeiten haben sich in fünf Jahrzehnten enorm verbessert. Spezialeinheiten existierten 1971 noch nicht. Damals: Die Einsatzleitung erfolgte durch Einsetzen einer Sonderkommission aus der Alltagsorganisation heraus.  Heute: Auf Knopfdruck würde einen BAO (Besondere Aufgabenorganisation) mit besonders geschultem PF (Polizeiführer) aufgerufen. Die folgende Schilderung muss deshalb mit dem Datumstempel 1971 versehen werden. 

Ich habe im Oktober des Jahres als junger Schutzmann und Oberwachtmeister in der Essener Innenstadt (Schutzbereich I) meine ersten unsicheren Polizeischritte unternommen. 18 Jahre alt, noch nicht einmal volljährig. Von der Albrecht-Entführung und den polizeilichen Maßnahmen rund herum haben wir auf der „Gerlingwache“ nichts mitbekommen. Denn auch intern hielt der damalige Polizeipräsident Hans Kirchhoff („Der blonde Hannes“), der sich als Berater einen Kriminalbeamten aus München holte, den Deckel drauf. 

Der Fall Albrecht (aus dem Jahrbuch der Essener Polizei 1971 ) - Autor unbekannt:

Misstrauisch - dennoch voller Verständnis blickten die auf der Kriminalwache anwesenden Beamten den aufgeregten Herrn (Anmerkung: ALDI-Rechtsanwalt) hinter der Wachtheke an, der unbedingt zu dieser Zeit noch den Polizeipräsidenten  persönlich zu sprechen wünschte, selbstverständlich  in einer äußerst dringenden und ebenso vertraulichen Angelegenheit. Als sich dann nach und nach herauskristallisierte, dass es sich tatsächlich um einen Fall handelte, für den es sich lohnte, die Leitung der Essener Polizei und Staatsanwaltschaft zu alarmieren, begann am 30.11.1971, gegen 00.40 Uhr, die Albrecht-Story, einer der spektakulärsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte.

Theo Albrecht (49) - mit diesem Foto geht die Polizei in die Öffentlichkeit

Tatsächlich begonnen hatte der Fall aber schon am Montag, 29. 11.1971, gegen 18.15 Uhr, in Herten, als der Essener Kaufmann und Millionär Theodor Albrecht beim Verlassen seines Firmensitzes gekidnappt wurde.

Eine 30köpfge Sonderkommission - in der Folgezeit durch drei Observationsgruppen aus Köln, Düsseldorf und Dortmund verstärkt - nahm sofort die Arbeit auf. Die zunächst eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen nach dem Auto des Entführten hatten bereits am nächsten Morgen Erfolg. Das Fahrzeug wurde in Gelsenkirchen-Buer gefunden. Zunächst musste man allerdings auf Zeichen von den Entführern bzw. dem Entführten warten. Noch in der Nacht der Entführung hatten sich die Kidnapper zum ersten Mal gemeldet.

Am 5. 12.1971 präsentierten sie schließlich ihre Forderung: 7 Millionen D-Mark in 100-, 500- und 1000-DM-Scheinen. Später wurde dann der Modus der Geldübergabe bekanntgegeben.

Am 7. 12. 1971 sollten der Anwalt des Entführten, sein Geschäftsführer, seine Frau und sein Sohn das Geld übergeben. Das ,,roch“ jedoch nach weiterer Geiselnahme, deshalb wurden Kriminalbeamte durch Maskenbildner hergerichtet, um anstelle der Angesprochenen das Geld übergeben zu können. Die Privatfahrzeuge der Familie Albrecht wurden außerdem mit versteckten Funkgeräten ausgerüstet. Die geplante Geldübergabe platzte jedoch, weil die Familie des Entführten auf Anraten der Kripo nur gegen gleichzeitige Freilassung der Geisel das Geld aushändigen wollte.

Bis zu diesem Zeitpunkt konnte die ganze Affäre geheim gehalten werden. Inzwischen hatte jedoch die Presse ,,Wind bekommen“. Zunächst konnte zwar ein Stillhalteabkommen getroffen werden, doch am 9.12.1971 erging schließlich Mitteilung an die Öffentlichkeit. Durch die Mithilfe der Bevölkerung hoffte man, dem Aufenthaltsort des Entführten näherzukommen. Die allzu große Betriebsamkeit der Presse verunsicherte die Täter, so dass es erst nach einigen Tagen zur neuen Kontaktaufnahme kam.

Am 16.12.1971 übergab der als Vermittler eingeschaltete Ruhrbischof Dr. Hengsbach im Raum Breitscheid bei Düsseldorf das Lösegeld und konnte dafür den freigelassenen Theo Albrecht zu seiner Familie zurückbringen. Als die Freilassung am nächsten Tag der Kripo und der Staatsanwaltschaft bekannt wurde, konnte der Fahndungsapparat voll anlaufen.

Vermittler und Lösegeldüberbringer Ruhrbischof Franz Hengsbach

Auch die Schutzpolizei war bis dahin nicht untätig gewesen. Rund um die Uhr standen besonders ausgerüstete und bewaffnete Einsatzeinheiten der Schutzpolizei bereit, um im Bedarfsfalle Straßensperrungen, Durchsuchungen und andere Maßnahmen durchführen zu können. Hervorgehoben zu werden verdienen auch die vielfältigen modernen technischen Mittel, die eingesetzt worden sind. Die kriminalpolizeiliche Erfahrung, dass bei Menschenraub und räuberischer Erpressung dem schnellen und sinnvollen Einsatz von fernmeldetechnischen Hilfsmitteln für die Sicherheit des Entführten und die Aufklärung der Straftat besondere Bedeutung zukommt, hat sich in diesem Entführungsfall erneut bestätigt. 

So stieg mit Beginn der ersten polizeilichen Maßnahmen der Fernsprech-, Fernschreib- und Funkverkehr enorm an. Allein die Ferngesprächeinheiten lagen gegenüber der vergleichbaren Zeit um 19 000 höher, und weit über 500 Fernschreiben mussten zusätzlich abgesetzt werden.

Bereits nach dem ersten Anruf der Entführer in der Wohnung Albrecht  wurde dieser Anschluss im Einvernehmen mit der Deutschen Bundespost auf „Fangschaltung“ gelegt. Alle weiteren Anschlüsse, auf denen Anrufe der Entführer zu erwarten waren, versah man mit Tonaufzeichnungsgeräten, um so die Voraussetzung für eine Täterstimmen-Identifizierung  zuschaffen. […] Die gemieteten schnellen Personenwagen mussten im Interesse eines zuverlässigen Informationsaustausches  mit improvisierten Polizeifunkanlagen ausgestattet werden.[…] Die Verwendung der vielfältigen Fernmeldemittel machte die Einrichtung einer technischen Einsatzleitung notwendig. […] Hierzu gehörten auch die Präparierung der verschiedenen Kraftfahrzeuge (für die Übergabe des Lösegeldes) und die Verwendung eines von München eigens eingeflogenen Minipeilsenders. […] Um auch für die im Münsterland langfristig eingesetzten Observationsgruppen eine zuverlässige Funkverbindung zu gewährleisten, wurde im Einvernehmen mit den zuständigen Behörden auf dem Longinusturm in Nottuln ein ortsfestes Funkrelais aufgebaut.

Rechts im Bild einer der Ermittler und späterer Leiter des 1. Kommisssariats Klaus Mannigel

Die kurzfristige Information aller Grenzübergangsstellen und Flughäfen war ebenso wichtig wie die Herstellung schneller Fernschreib- und Fernsprechverbindungen zum Bundeskriminalamt und nach Übersee.

Die Mithilfe von Tonträgern aufgezeichneten Täterstimmen haben – zweckentsprechend geschnitten und kopiert und über alle Fernseh- und Rundfunkanstalten im Bundesgebiet ausgestrahlt – zu entscheidenden Täterhinweisen und schließlich zur Festnahme des verdächtigen Krone geführt.

Ein Düsseldorfer Radiohändler hatte die Stimme eines Mannes wiedererkannt, der am Morgen des 18.12. bei ihm eine alte Schuld von 3400 DM beglichen hatte. Wie sich später herausstellte, stammten drei der 500-DM-Scheine, mit denen der Kunde bezahlt hatte, aus der Lösegeldsumme. 

Am 20.12. konnte Kron beim Verlassen seiner Zweitwohnung in Düsseldorf festgenommen werden.

Als Kron am 29.12. schließlich ein Geständnis abgelegte und den Düsseldorfer Rechtsanwalt Ollenburg als seinen Mittäter bezeichnete, waren die Ermittlungen soweit gediehen, dass die Anwaltspraxis bereits seit einiger Zeit beobachtet wurde. Bei der Durchsuchung am 29.12. war Ollenburg jedoch ausgeflogen; er hatte sich am Mittag mit seiner Freundin nach Mexiko abgesetzt. Noch am selben Tag gegen 20.15 Uhr nahm die mexikanische Polizei Ollenburg und seine Freundin im Hotel fest.

Theo Albrecht hatte inzwischen die Praxis von Ollenburg als Ort seines Zwangsaufenthalts wiedererkannt. Ollenburg kehrte am 1.1.1972 freiwillig zurück, er wurde am Kölner Flughafen festgenommen. Am 2.1. legte er ein volles Geständnis ab, das sich mit dem des Mittäters Kron deckte. Lediglich in Bezug auf den Verbleib des Lösegeldes widersprachen sie sich. Während Kron erklärte, aus der Summe nur 10.000 DM erhalten zu haben, behauptete Ollenburg, die Summe sei inzwischen redlich geteilt worden. Die Hälfte des Lösegeldes, mehr als 3 Millionen DM, ist inzwischen wieder aufgetaucht. 2,8 Millionen DM lagen in Waldgebieten bei Kaiserswerth und Recklinghausen vergraben, 200.000 DM gab ein Geschäftsmann zurück, der sie von Ollenburg erhalten hatte. […]

Kripobeamte - in der Mitte Jürgen Springen - zählen das ausgegrabenen Lösegeld

Die in der Sonderkommission tätigen Kriminalisten waren bis an die Grenze ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit im Einsatz. Sie haben dabei ein hohes Maß an Pflichtbewusstsein, Gewissenhaftigkeit und Verantwortungsfreude gezeigt, gepaart mit Findigkeit, Entschlusskraft und Durchhaltevermögen. Auf Beamte mit dieser berufsethischen Einstellung ist auch in Zukunft Verlass. Sie verdienen das Vertrauen von Staat und Bevölkerung. Schließlich durften auch andere Aufgaben nicht vernachlässigt werden. Die Betroffenen waren nicht zuletzt die Familienangehörigen dieser Beamten.

Für Weihnachtsvorbereitungen blieb kaum Zeit - wie sollte auch, bei normaler Dienstzeit plus zusätzlich mehr als 10 000 Überstunden? Deshalb gelangte dieser außergewöhnliche Fall auch auf außergewöhnliche Art und Weise zum. Im Rahmen einer feuchtfröhlichen ,,Dienstbesprechung“ im PSV-Heim löste der Behördenleiter (Anmerkung: Polizeipräsident Hans Kirchhoff) die Sonderkommission am 25. 3. 1972 auf und sprach ihr Dank und Anerkennung aus. Er stellte fest, der Fall Albrecht habe gezeigt, dass eine moderne Polizei nur erfolgreich zu arbeiten vermöge, wenn ihr ausreichende Hilfsmittel, die dem neuesten Stand der Technik entsprächen, zur Verfügung stünden. Er hob hervor, dass der Erfolg wesentlich durch das Verständnis und die Mithilfe der Familienangehörigen - besonders der Ehefrauen der Beamten - mitbedingt war. 
Zum Gelingen des Festes trugen sowohl der Entführte als auch Innenminister Weyer bei.

Anmerkung: 

Die beiden Entführer, Rechtsanwalt Heinz Joachim Ollenburg (damals 48 Jahre alt) und Autoschlosser und Einbrecher („Diamanten-Paule“) Paul Kron (damals 39 Jahre alt) wurden 1973 zu jeweils 8,5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Hälfte des Lösungsgeldes blieb für immer verschwunden. Theo Albrecht lebte nach seiner Entführung sehr zurückgezogen in seinem Stadtteil Bredeney, hielt noch lange Jahre nach dem Geschehen die Verbindung zur Essener Polizei und lud immer zu Weihnachten einige Ermittler zu ALDI-Kaffee und ALDI-Christstollen in seine Villa ein. 

Theo Albrecht starb am 24. Juli 2010 - Die Grabstätte der Familie auf dem Friedhof in Bredeney
 

Fernsehtipp: Der WDR zeigt am kommenden Freitag, 19.11.2021 in der Sendereihe „Herzflimmern“ eine Dokumentation der Entführung. Jetzt schon in der ARD-Mediathek:

https://www.ardmediathek.de/video/wdr-dok/die-aldi-entfuehrung/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTFlZDYwYTVkLTI3ZTMtNGZkMi05MGMxLTMzMzQ2Nzk4YzQ2NQ/

Buchtipp: „Auf den Spuren der Albrechts“ von Martin Kuhna (freier Journalist, ehemaliger WAZ-Redakteur und Polizeireporter). Erschienen im REDLINE VERLAG. Martin Kuhne gilt mittlerweile als „Albrecht-Experte“.

Freitag, 12. November 2021

1935 - Der Fenstersprung aus dem Essener Polizeipräsidium

Vorwort: Das Polizeipräsidium ist zurzeit in den Schlagzeilen. Die Polizei möchte aus ihrem Stammhaus  - erbaut von 1914 - 1918 -  umrahmt von der Hufeland-/ Virchow- und Büscherstraße auf den Stadtteilgrenzen Holsterhausen/ Rüttenscheid -  ausziehen. Als Grund wird Platzmangel angegeben. Es ist einer der wenigen großen Amtsgebäude in Essen, die den Bomben des 2. Weltkrieges leicht beschädigt standhielten und steht unter Denkalschutz. In einem früheren Aufsatz für den Rüttenscheider Heimatverein schrieb ich: „Wenn die Mauern erzählen könnten."

Ende der 1980er-Jahre lernte ich den Stadthistoriker Dr. Ernst Schmidt (Jahrgang 1924) kennen. Er recherchierte für sein Buch „Lichter in der Finsternis – Widerstand und Verfolgung in Essen 1933 – 1945“ und bat um polizeiliche Hilfe. Es ging um einen Vorfall aus dem Jahr 1935. Das  damalige Terrorregime verfolgte alle Bürger, die nicht ihrer Ideologie folgten. Sozialdemokraten, Kommunisten, Zeugen Jehovas, Sinti, Roma, Homosexuelle und vor allen Dingen Landsleute mit jüdischem Glauben. 

Gestapo, Kripo und Schupo arbeiteten eng zusammen. Wie auch in diesem Fall. Ernst Schmidt wollte wissen, aus welchem Fenster des Polizeipräsidiums der Kommunist Artur Müller vor seinen Peinigern im Januar 1935 sprang und flüchtete. Leider haben wir das nicht ermitteln können. Aus dem folgenden Text geht das Zimmer hervor. Raum 265 in der 2. Etage des Polizeipräsidiums.

Am Rande erfuhr ich, dass selbst der Autor und Historiker Dr. Ernst Schmidt beim damaligen 14. Kommissariat (heutiger Polizeilicher Staatsschutz), das direkt dem Polizeipräsident Dr. Max Bloser unterstellt war, aktenmäßig erfasst war. Denn er war nach dem Krieg Mitglied der Deutschen Kommunisten Partei (DKP) bis 1982, bevor er in die SPD eintrat.  Der gebürtige Borbecker hinterließ ein riesiges Archiv seiner wissenschaftlichen Recherchen und Dokumente aus der Essener Arbeiterbewegung.

Das „Haus der Essener Geschichte“ befindet sich heute an einem Platz, der seinen Namen trägt: Ernst-Schmidt-Platz. (Uwe Klein)

1935 - Der Fenstersprung aus dem Essener Polizeipräsidium

 von Dr. Ernst Schmidt

Pfingsten 1950 fuhr ich mit Gleichgesinnten zum 1. Deutschlandtreffen der Jugend nach Berlin. Dicht gedrängt saßen wir in einem Eisenbahnabteil und vertrieben uns die Zeit mit mancherlei Gesprächen. Neben mir saß Artur Müller, dem ich vorher schon hier und dort begegnet war. Die Gespräche verstummten, als er begann, einige Erlebnisse aus der Zeit des Faschismus zu erzählen. Unsere Ankunft am Ziel unserer Reise ließ mich jedoch bald schon wieder an anderes denken.

In den folgenden Jahren nahm ich mir immer wieder vor, mit Artur Müller nochmals über das zu sprechen, was ich bei der gemeinsamen Reise gehört hatte. Erst 25 Jahre später fand ich dazu die Gelegenheit. Ich erfuhr dabei mehr von dem Erleben des Mannes, dessen Erzählungen mich 1950 stark beeindruckt hatten. Seine erste politische Konfrontation erlebte Artur Müller im Januar 1923, als französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten. Ihre Anwesenheit gab auch in Essen manchen Anlass zu Auseinandersetzungen.

Er war Laufjunge bei Krupp, als am Karsamstag 1923 französischen Soldaten in der Altendorfer Straße dreizehn Krupp-Arbeiter erschossen. Am Morgen des Tages hatte eine Einheit der französischen Armee die Kraftwagenhalle der Firma Krupp in der Nähe der Hauptverwaltung besetzt. Herbeigerufen von heulenden Werksirenen, strömten später Tausende Krupp-Arbeiter zusammen.

Das lag ganz im Sinne der Firmenleitung, die lange vorher mit dazu beigetragen hatte, nationalistische Stimmungen in der Belegschaft zu wecken. lmmerhin lenkten solche Emotionen die Arbeiter von Lohnforderungen ab und machten sie außerdem zu einem Werkzeug des Konkurrenzkampfes, in dem sich deutsche und französische lndustrielle damals befanden. Beeinflusst von aufpeitschenden Redensarten, wuchs die Erregung der Demonstranten und mit ihr die drohende Haltung gegenüber den französischen Soldaten. Artur Müller stand mitten unter ihnen, als die Gewehrsalven abgefeuert wurden. Bis dahin hatte er dem kommunistischen Betriebsrat Josef Zander zugehört, der von einigen Kollegen hochgehoben — lautstark die Krupp-Arbeiter aufforderte, keine nationalistischen Losungen zu befolgen und sich nicht provozieren zu lassen. Als er sah, wie dieser dann von den Kugeln tödlich getroffen zur Erde sank, machte er kehrt und lief um sein Leben.

Kurze Zeit danach trat er dem Kommunistischen Jugendverband und später auch der Kommunistischen Partei Deutschlands bei. Aktiver antifaschistischer Einsatz machte ihn 1933 zu einem Verfolgten durch die neuen Machthaber. Mit Gleichgesinnten ging er deshalb außer Landes. Nach vorübergehendem Aufenthalt in Holland, Frankreich und im Saargebiet kehrte er am 6. Februar 1934 wieder nach Essen zurück. Sofort nahm er hier am organisierten Widerstand teil. Das ging gut bis zum 3. Januartag des Jahres 1935. Er war gerade auf dem Wege zum Treff mit einem seiner Genossen, als die Gestapo ihn in der Aachener Straße festnahm.

Rechts fehlt noch der im Krieg zerstörte Anbau - heutiger Westflügel

Ausführlich erzählte Artur Müller: „Schon die ersten Vernehmungen ließen mich fast verzweifeln. Nacheinander nahm mich ein Gestapo-Mann nach dem anderen vor. Ob es Albert Schweim, Richard Aurich, Heinrich Wientgen, Ernst Schröder, Fritz Vaupel oder Heinz Hasselbach waren. Sie und ihre Prügelknechte quälten mich erbarmungslos. Eines Tages vernahm mich Aurich wieder und legte mir ein Foto vor, auf dem ich den illegalen Bezirksleiter des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands im Ruhrgebiet erkannte. Mit ihm hatte ich in den letzten Monaten eng zusammengearbeitet. „Kennst du den?“ fragte er mich. - Schweigen! Dann Schläge. „Schau’ dir das Bild richtig an, und sag schon, ob du den Mann kennst?“ - Wieder Schweigen. - Wieder klatschende Schläge. Mit geballten Fäusten stand Aurich vor mir, sah mich wütend an und brüllte: „Mensch, Müller, gib zu, dass du den Mann kennst, und sage uns, wie er heißt‘. „Nein“, rief ich zurück und schwieg dann wieder. Aurichs Faustschläge trafen mich links und rechts hinter den Ohren. Ich fiel auf den Boden und sah über mir die hasserfüllten Augen eines menschlichen Scheusals. Hochgerissen und auf einen Stuhl gesetzt, hörte ich Aurich sagen: „Die Prügel hättest du dir ersparen können. Deinen Komplizen haben wir längst, gleich werden wir ihn dir vorführen, vielleicht wirst du dann gesprächiger.“ Kurz darauf öffnete sich die Tür, und ein Mann wurde ins Zimmer geführt. lm ersten Augenblick erkannte ich ihn nicht. Sein Gesicht war zerschlagen, beide Wangen blutunterlaufen, ein Auge vollkommen zu, das andere nur halb auf. Lediglich die Figur und das krause Haar überzeugten mich davon, dass es der Genosse war, den ich schon auf dem vorgelegten Foto erkannt hatte. „Jetzt wollen wir einmal hören, ob er dich kennt“, sagte Aurich und schritt auf mein Gegenüber zu. Eisernes Schweigen war auch hier zunächst die Antwort auf seine Fragen.„Dann muss ich ein wenig nachhelfen“, sagte die Bestie in Menschengestalt und schlug mit dem Ochsenziemer auf den Schweigenden ein. Mir schwollen die Adern, zugleich aber begriff ich die eigene Hilflosigkeit. Als mein grausam gefolterter Genosse dann unter den klatschenden Schlagen stockend und kaum verständlich sagte: „Ja, das ist Artur Müller, der mir bei der illegalen Arbeit geholfen hat“, da wusste ich, dass er längst nicht mehr zurechnungsfähig war. „Na, Müller, hast du gehört, was er gesagt hat?“, fragte mich Aurich, ließ dabei den Ochsenziemer kurz durch seine Hand gleiten und versetzte mir einen Schlag, der meine Schulter traf. Dann wollte er von mir wissen, was ich mit den bei mir angelieferten Flugblättern gemacht hatte. „Ich habe sie unter Haustüren geschoben und in Gärten geworfen“, antwortete ich und schwieg dann wieder. „Die Methode kenne ich, du willst nur deine Untergruppen schützen“, sagte er und fügte drohend hinzu: „Erst werde ich einmal den Kerl hier wegbringen, dann unterhalten wir uns weiter.“

Sekunden später stand ich allein im Zimmer. Aurich war mit meinem Genossen auf den Flur gegangen und hatte die Tür hinter sich verschlossen. Bald würde er zurückkommen. Da fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf und ließ mich sofort handeln. Mit einem Satz war ich am Fenster und stieß beide Flügel auf. Unter mir lagen noch zwei Stockwerke, ich aber sah vor mir immer nur den Ochsenziemer schwingenden Gestapo-Schlager. Nur weg von hier, dachte ich und zögerte nicht einen Augenblick. Meine Beine über die Brüstung schwingend, hing ich bald mit beiden Händen an der Fensterbank und ließ mich dann in die Tiefe fallen. Ein Ligusterbusch stoppte sanfter als der Erdboden meinen Aufschlag. „Du lebst ja“, ging es mir durch den Kopf, und ein Gefühl der Kraft berauschte mich. „Jetzt nichts wie weg!“ Ich befand mich im äußeren Hof des Polizeipräsidiums, der von der Straße durch ein etwa zwei Meter hohes Tor getrennt war. Unbemerkt lief ich zum Tor, sprang in die Höhe und erreichte mit den Händen den oberen Rand. Mich mit einem Fuß auf der Klinke abstützend, gelang es mir, das Hindernis zu überwinden. Augenblicke später lief ich die Straße entlang, bis zu einem offen stehenden Hoftor eines Wohnhauses. Wie ein gehetztes Tier rannte ich auf den Hof, um mich hier vor den Verfolgern zu verstecken.“

Dieser Fenstersprung und die Flucht Artur Müllers waren auch Inhalt eines Gestapo-Berichtes. Deutlich nüchterner in der Darstellung, diente er 1935 dem Verfasser Richard Aurich zugleich als Entschuldigung seiner Unachtsamkeit. Er habe am 8. Januar 1935 im Zimmer 265 einen Festgenommenen dem Müller gegenübergestellt. Als er danach diesen wieder abgeführt hatte, sei Müller in dem im zweiten Stockwerk des Hauses gelegenen Zimmer für einen Augenblick allein geblieben. Allerdings sei an dieser Stelle der Keller vollkommen frei ausgebaut gewesen, so dass man bei einer wirklichen Höhe von drei Stockwerken wohl kaum an die Ausführung eines Fluchtversuches habe denken können.

Nach diesem Versuch der eigenen Rechtfertigung  gegenüber seiner vorgesetzten Behörde schildert er den Fenstersprung und die gelungene Flucht seines Häftlings so: „Die kurze Zeit meiner Abwesenheit hat Müller benutzt, um aus dem Fenster zu springen. Er hatte insofern besonderes Glück, dass er auf eine Hecke und dann auf weichen Lehmboden aufgeschlagen ist, wodurch die Folgen des sonst wohl tödlichen Sprunges derart abgeschwächt wurden, dass Müller über ein etwa zwei Meter hohes Tor auf die Straße gelangen konnte. Er floh in der Richtung zur Virchowstraße und wandte sich dann zur Hufelandstraße. Von dort aus fehlt jede Spur des Müllers. Die sofort aufgenommene Verfolgung ist ohne Erfolg geblieben. Es wurde sofort Funkspruch an alle aufgegeben. Die Landratsämter Geldern, Cleve und Wesel und das Grenzkommissariat Kaldenkirchen wurden fernmündlich benachrichtigt. Briefsperre ist über die Eltern und die Braut verhängt.“

Als ich Artur Müller den Inhalt des Aurich-Berichtes vom 8. Januar 1935 vorlas, lächelte er und sagte: „Was da über meinen Fluchtweg niedergeschrieben wurde, ist aus der Luft gegriffen. Man nahm an, ich sei in Richtung Virchowstraße gelaufen, um von dort die Hufelandstraße zu erreichen. Das war aber falsch gedacht. lm äußersten Hof des Polizeipräsidiums befanden sich zwei Tore. Eines führte zu den angrenzenden Anlagen, das andere befand sich an der Virchowstraße. Ich bin über das Tor zu den Anlagen geklettert, weil das Auto, in dem man mich am Tage meiner Festnahme zum Präsidium gebracht hatte, durch das andere Tor in den Hof gefahren war. Dabei ist mir der dort stehende Polizeiposten aufgefallen. Als Aurich mich bei seiner Rückkehr ins Zimmer vermisste, hat er - wie ich später erfuhr - im ersten Augenblick seine Suche auf Akten- und Garderobenschränke im Raum konzentriert. Erst eine am Boden liegende Milchflasche - ich hatte sie vom Fensterbrett gestoßen - ließ ihn meinen Fluchtweg vermuten. Der Blick aus dem Fenster auf den durch meinen Aufschlag eingedrückten Ligusterstrauch verschaffte ihm Gewissheit.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich längst schon den Hof des Wohnhauses erreicht. Auch dort war kein Mensch weit und breit zu sehen. Durch eine offen stehende Tür gelangte ich in die Waschküche. Hier stand in einer Ecke ein Weihnachtsbaum. Kurzentschlossen verkroch ich mich in diese Ecke der Waschküche und hielt den Weihnachtsbaum schützend vor mir. Jetzt erst erfüllte mich ein Gefühl der Freude und Hoffnung. „Du bist den Bestien entkommen“, ging es mir durch den Kopf, und bestimmt habe ich dabei gestrahlt wie jemand, der in einer Lotterie den Hauptgewinn gezogen hatte.

Polizeisirenen auf der Straße, näher kommende aufgeregte Stimmen und das Läuten der Türglocke des Hauses ließen mich jedoch schlagartig wieder meine nahezu ausweglose Lage erkennen. „Jetzt haben sie dich wieder“, sagte ich mir und sah mich im Geiste wieder in einer Gefängniszelle. Ein wenig von Panik erfasst, wollte ich aufspringen und davonrennen, aber nahezu unerträgliche Schmerzen in den Beinen und im Rücken hinderten mich daran. Jetzt erst bemerkte ich die Folgen meines tollkühnen Sprunges aus dem Fenster. Die Füße waren dick geschwollen, und nur mühsam gelang es mir, mich aufzurichten. Erst nachdem ich meine Schuhbänder gelöst hatte, empfand ich ein wenig Erleichterung. Vorn übergebeugt und stark hinkend setzte ich die Flucht durch den Garten der Villa fort. Mein Äußeres war keineswegs einladend. Bei der Festnahme durch die Gestapo waren mir Hosenträger, Krawatte, Mantel und Kopfbedeckung abgenommen worden. Mit einer Hand die Hose haltend, wankte ich in den mir belassenen wenigen Kleidungstücken durch die Gegend. Irgendwie gelangte ich unmittelbar neben den damaligen Städtischen Krankenanstalten auf die Hufelandstraße (Anm.: heutige Universätsklinikum). Hier sah ich am Eckgeschäft auf der anderen Straßenseite einen Stangeneiswagen stehen. Heute im Zeitalter der Kühlschränke und Gefriertruhen ganz aus dem Straßenbild verschwunden, lieferten diese Wagen damals an Gaststätten, Hotels und Geschäfte mit verderblichen Waren die in Eisfabriken eigens für diesen Zweck angefertigten Stangen des gefrorenen Wassers. Der Eiswagen, den ich gegenüber den Städtischen Krankenanstalten stehen sah, gehörte Leo, einem Bekannten aus Frohnhausen, der damit die Kunden einer Essener Stangeneisfabrik belieferte. Neue Hoffnung auf ein Gelingen meiner Flucht erfüllte mich, als ich, die Straße überquerend, auf den Wagen zuwankte. In diesem Augenblick trat Leo aus dem Geschäft heraus, sah mich in meinem elenden, mitleiderregenden Zustand an seinem Wagen stehen und fragte besorgt: „Was ist mit Ihnen?“ – „Mensch, Leo“, sagte ich, schaute ihn an und bemerkte, dass er mich jetzt erkannte. „Wo kommst du denn her, Artur“, fragte er, und ich sah, wie sehr mein Aussehen ihn erschreckte. Was sollte ich sagen? Nun ja, ich kannte ihn, allerdings aber nur so gut, wie man den Nachbarn von nebenan kennt. Was ich aber nicht kannte, das war seine Einstellung zu den politischen Ereignissen seit dem Januar 1933. Darum konnte ich ihm unter keinen Umständen die Wahrheit sagen. Auf der Alfredstraße sei ich gestürzt, erzählte ich ihm. Das Fahrrad hätte ich untergestellt und mich zu Fuß auf den Weg gemacht. Mit der Zeit seien die Schmerzen unerträglich geworden. Sein Wagen käme mir darum wie gerufen. Nach dieser Erklärung stellte ich ihm konkret die Frage: „Leo, kannst du mich zur Suarezstraße bringen?“ – „Ist doch selbstverständlich“,  antwortete er sofort, öffnete ohne weitere Fragen die Beifahrertür, half mir in den Wagen und fuhr los.

In unmittelbarer Nähe der Suarezstraße wohnten die Eltern meiner Braut, zu ihnen wollte ich. „Mensch, Artur, geh bloß sofort zum Arzt“, riet Leo, als er mir kurze Zeit später aus dem Wagen half und danach seine Fahrt fortsetzte. Dankbar winkte ich ihm nach. Minuten später war ich bei Genossen. Sie brachten mich zunächst zu einer Familie in die Annastraße. Hier blieb ich die Nacht und den folgenden Tag. Nach einem Zwischenaufenthalt in der Goethestraße landete ich bei Genossen in der Windscheidstraße. Der Transport von einer Stelle zur anderen war äußerst schwierig. Nur unter riesigen Schmerzen konnte ich mich fortbewegen. Ein Fahrrad wurde eingesetzt, um die längeren Strecken zurückzulegen. Während ich auf der oberen Stange des Rahmens saß, schob man das Rad in den Abendstunden von einem Unterschlupf zum anderen. Irgendeiner hatte dann in Essen-Kupferdreh einen Arzt aufgetrieben, der mich in der Windscheidstraße untersuchte. Er schüttelte den Kopf, legte Verbände an, gab ärztliche Anordnungen und meinte, es sähe böse mit mir aus. Ständige Beaufsichtigung und Pflege seien unbedingt erforderlich. Da meine Quartiergeber beide berufstätig waren, musste man mich wieder anderswo unterbringen.

„Bei mir wird dich keiner finden, und wenn du fünf Jahre hier wohnen müsstest“, meinte Genosse Rudolf zu mir, bei dem ich in der Wienenbuschstraße Stunden später eine neue Bleibe fand. Hier glaubte ich nach den aufregenden Stunden der beiden letzten Tage endlich Ruhe zu finden. Tatsachlich folgte auch für mich eine ruhige Nacht.“

Essens Gestapo war inzwischen nicht untätig gewesen. Hier lief die Fahndung auf Hochtouren, zumal man bemüht war, die erlittene Blamage schnell wieder vergessen zu machen. In der Öffentlichkeit war die gelungene Flucht verschwiegen worden, um nicht noch mehr unnötigen Staub aufzuwirbeln. Der Zufall führte sie dann schließlich auf eine heiße Spur. Ein strammer SA-Mann hatte Artur Müller, den er in Haft wähnte, irgendwo mit einem ihm ebenfalls bekannten Begleiter auf der Straße gesehen. Stutzig geworden, erstattete er Meldung. Drohungen und Ochsenziemer taten ihr übriges, um hier und da Aussagen zu erpressen. Als Artur Müllers Genosse Rudolf dem Flüchtling sagte: „Bei mir wird dich keiner finden, und wenn du fünf Jahre hier wohnen müsstest“, da ahnte er noch nicht, wie eng die Gestapo bereits ihr Netz um seinen Schützling gezogen hatte.

Schon am anderen Tag standen dann die Häscher vor der Tür des Verstecks, um ihren entsprungenen Häftling wieder einzufangen. Die folgenden Einzelheiten der Ereignisse jenes Tages schilderte Artur Müller: „Nach einer Nacht mit erquickendem Schlaf wurde ich am anderen Morgen von der Frau meines Genossen Rudolf mütterlich behandelt und verpflegt. Auf dem Tisch neben meinem Bett waren allerlei für mich gedachte Sachen aufgestapelt: Obst, Kuchen, Gebäck, Rauchwaren und selbst ein wenig Geld. Ich fühlte mich wie ein Kind, das seine verlorene Mutter wieder gefunden hatte. „Hier hast du etwas gegen die Langeweile", sagte mein Quartiergeber und reichte mir ein Buch. „Zement“, las ich auf dem Buchdeckel. Mir fiel ein, dass ich Jahre zuvor schon einmal begonnen hatte, diesen interessanten Roman von Fjodor Gladkow zu lesen. Sofort machte ich mich daran herauszufinden, wie weit ich damals gekommen war. Während des Lesens ergriff mich die Müdigkeit. Das Buch beiseite legend, war ich dem Einschlafen nahe.

Da ließ mich das scharfe Bremsen eines Autos auf der Straße wieder wach werden. Instinktiv witterte ich Gefahr, zumal mir bekannt war, dass die Wienenbuschstraße für den Durchgangsverkehr gesperrt war. „Was ist, Artur, hast du einen Wunsch?" fragte mich der Genosse Rudolf, der auf mein Rufen ins Zimmer trat. „Schau einmal nach, mir scheint, ein Auto hat vor dem Haus gehalten“, sagte ich und sah ihm besorgt nach, als er die wenigen Schritte zum Fenster machte. Kaum hatte ich sein entsetztes Rufen: „Die Polizei, die Polizei‘ gehört, sprang ich aus dem Bett und schleppte mich unter großen Schmerzen auf die Diele. Hier stand eine Leiter zum Speicher. Die drohende Gefahr verlieh mir trotz der schmerzenden Verletzungen solche Kräfte, dass ich über diese Leiter nach oben gelangte. Hier angekommen, schloss ich die Luke, orientierte mich im Dämmerlicht und entdeckte in einer Ecke einen Hühnerstall. In ihm suchte ich Zuflucht. Er lag etwas tiefer, ragte aber mit seinem oberen Teil in den Speicher. Lediglich mit dem Hemd bekleidet und nur bis zum Nabel sichtbar, bot ich wohl ein originelles Bild. Sekunden später wurde die Luke geöffnet, und ein Polizeibeamter betrat den Speicher. In seiner Hand hielt er schussbereit die gezogene Pistole. Ihm folgte der mir bereits bekannte Gestapo-Mann Willi Oligschläger.

Während mich einer fragte: „Müller, hast du Waffen bei dir?“, kamen beide vorsichtig und schrittweise auf mich zu. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, hätte ich eine Schusswaffe besessen. Aus meiner Hühnerbehausung herausgezogen, schaffte man mich wieder nach unten. Dabei ging man nicht gerade zärtlich mit mir um. Aufmerksam bewacht, musste ich meine Kleidung anziehen. Dann legte man mir Handschellen an und führte mich nach draußen. Hier wimmelte es von Polizei. Als ich sie sah, konnte ich mir ein ironisches Lächeln nicht verkneifen. „Der Bursche grinst noch“, meinte einer und drohte: „Warte nur, dir wird das Lachen noch vergehen.“

Auf offenem Wagen, umringt von zahlreichen Polizei- und Gestapo-Beamten, ging die Fahrt durch das ganze Mühlbachtal zurück zum Polizeipräsidium, wo vier Tage vorher meine Flucht begonnen halte. Auf einer Bahre in eine Gefängniszelle getragen, legte man mich hier aufs Bett. Als kurze Zeit später die Zelle wieder geöffnet wurde, sah ich viele mir bereits bekannte Gestapo-Beamte, Männer in SA- oder SS-Uniform und einige Zivilisten auf dem Flur stehen. Zusammen begafften sie mich wie ein Weltwunder.“

In Müllers Gestapo-Personalakte befindet sich ein Bericht der Leitstelle Düsseldorf an das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin vom 1. Februar 1935, dessen Durchschrift auch dem Sicherheitsamt des Reichsführers der SS, SD-Oberabschnitt West, in Düsseldorf zur Kenntnisnahme zuging. Darin wurde die erneute Festnahme des Esseners so geschildert

„Den genannten Artur Müller, der bereits am 3.1.1935 festgenommen wurde, gelang es im Anschluss an eine Vernehmung durch einen unglaublich waghalsigen Sprung aus der II. Etage des Polizeipräsidiums Essens zu flüchten. Am 12.1. 1935, gegen 15.30 Uhr, konnte Müller in der Wohnung des Schriftstellers Rudolf S. , Essen, Wienenbuschstraße 49, wo er sich verborgen hielt, wieder ergriffen werden. In der genannten Wohnung lag Müller zu Bett, da er sich bei dem Sprung durchs Fenster eine Verstauchung beider Beine zugezogen hatte. Das Erscheinen der Polizei war aber von Müller noch rechtzeitig bemerkt worden. lm Hemd flüchtete er auf den Dachboden, wo er sich in einer Vertiefung unter Stroh versteckte. Bei der eingehenden Untersuchung des ganzen Hauses wurde er dann in seinem Versteck vorgefunden und konnte so seine abermalige Festnahme erfolgen.“ 

Nachdem Essens Gestapo-Prominenz und einige andere am Nachmittag des 12. Januar 1935 den wiedergefangenen Häftling wie ein Weltwunder betrachtet hatten, wurde er vom Polizeiarzt untersucht, der seine sofortige Überführung in das Essener Gefängnislazarett anordnete. Hier registrierte man Blutergüsse an den Beinen und im Rücken. Außerdem wurde festgestellt, dass ein Fuß angebrochen war, und dieser wurde in Gips gelegt.

 Neun Monate später, am 12. Oktober 1935, begann vor dem III. Strafsenat des Oberlandesgerichts in Hamm ein Prozess gegen 45 Essener Antifaschisten wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Artur Müller war einer von ihnen. Nach sechs Verhandlungstagen verkündete der Senatsvorsitzende, Oberlandesgerichtsrat Geck, das Urteil. Für Artur Müller lautete es auf 6 Jahre Zuchthaus und 5 Jahre Ehrverlust. Es wurde so begründet: „Der Angeklagte Müller hat sich vom Frühjahr 1934 bis zu seiner Verhaftung sowohl für die KPD wie auch für den KJVD eingesetzt. Er war Kassierer einer KPD-Zelle und hat sich außerdem als Lit.-Obmann äußerst rege betätigt. Außer seiner langen Erwerbslosigkeit und seinem Geständnis stehen ihm keine Milderungsgründe zur Seite, so dass in Anbetracht des großen Umfangs seiner Tat auf die empfindliche Strafe von sechs Jahren Zuchthaus erkannt werden musste. Gleichzeitig waren ihm mit Rücksicht auf die gezeigte ehrlose Gesinnung die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von 5 Jahren abzuerkennen.“

Am 28. Januar 1941 wurde Artur Müller aus der Haft entlassen. Bis zur Zerschlagung des Regimes stand er unter ständiger Polizeiaufsicht. Dann erst begann für ihn wieder das normale Leben in Freiheit.

Das Essener Stadtarchiv am Ernst-Schmidt-Platz

 
Quelle: Aufsatz aus dem Buch „Lichter der Finsternis – Widerstand und Verfolgung in Essen 1933 – 1945 / Band 1 – erschienen im Klartext-Verlag)  von Dr. Ernst Schmidt (1924 - 2009)