Seiten

Montag, 2. November 2020

Bleibt der Mord an Marijana (9) ungesühnt?

Vorwort

Der Mord an dem bosnischen Mädchen ist über 27 Jahre her. Marijana wäre heute eine Frau mittleren Alters. Wie wäre ihr Leben verlaufen? Vielleicht würde sie in Essen wohnen, wäre verheiratet, hätte Kinder? Der Krieg in ihrem Heimatland Bosnien/ Herzegowina war noch nicht ausgebrochen. Hätte sie, ihre Geschwister und Mutter fliehen müssen oder können, zumal ihr Vater schon jahrelang im Ruhrgebiet arbeitete. Es kam anders. Ein Unbekannter beendete grausam das junge Leben des Mädchens. Der Mord konnte bislang nicht geklärt werden. Lebt der Mörder weiter unter uns in Essen? Neben einer noch möglichen Aufklärung („Mord verjährt nie“) sollte das Opfer nie vergessen werden.

Vermisst

Essen-Altenessen. In der Frühbesprechung der Essener Kripo am 1. September 1993 hat die Erste Kriminalhauptkommissarin Hanna Baltuttis schon ein ungutes Gefühl. Jahrzehntelange Erfahrung lässt die Leiterin des 2. Kommissariats, zuständig für Sexualdelikte, Vermisstenfälle und Kinderkriminalität, sagen: "Das sieht nicht gut aus.“ Ihr Gefühl soll ihr recht geben.

Seit den späten Abendstunden des Vortages bis in die Nacht hinein sucht die Essener Polizei mit einem Großaufgebot nach Marijana Krajina. Über 100 Beamte sind im Einsatz. Das Mädchen aus Bosnien-Herzegowina ist mit ihrer Mutter zu Besuch bei ihrem Vater (51), der in Altenessen wohnt und seit 1966 bereits in Deutschland arbeitet.  Schon zum siebten Mal ist die 9-Jährige im Ruhrgebiet, immer in den Sommerferien. Sie kennt sich gut im Wohnumfeld aus, spricht aber wenig Deutsch. Sieben Wochen ist Marijana zurzeit in Essen.

Marijana - 9 Jahre alt

Am Dienstag, dem 31.August 1993, gegen 17.45 Uhr, verlässt das Kind die Wohnung des Vaters an der Straße Am Schlagbaum 5, um ihre Mutter (46) vom Kaufhaus "Woolworth" an der Altenessener Straße - nur wenige hundert Meter entfernt - abzuholen. Die Mutter kommt wenig später allein zur Wohnung zurück. Ihre Tochter ist verschwunden. Am späten Abend, gegen 22.00 Uhr, schalten die Eltern nach eigener erfolgloser Suche die Polizei ein. Bis zu 26 Streifenwagen suchen in der Nacht planmäßig die Umgebung und den Stadtteil Altenessen ab. Die Beamten werden von der Feuerwehr, von Bus- und Bahnfahrern sowie von Taxifahrern unterstützt.
Vom Wohnort zum Kaufhaus - ein kurzer Weg (Foto: Google Map)
Die Kripo nimmt die Ermittlungen auf. Die fieberhafte Suche bringt nicht den erhofften Erfolg. Marijana bleibt wie vom Erdboden verschluckt. Die Suche geht bei Helligkeit im unmittelbaren Wohnumfeld, im Kaiserpark, im und rund um das Einkaufszentrum, auf dem Gelände der Zeche Carl am nächsten Tag weiter. Das Mädchen ist wie vom Erbogen verschluckt. Nach den Veröffentlichungen auf Radio Essen und in anderen Medien gehen wenige Hinweise ein. Auch sie führen nicht zu dem Kind.

Mord

Scheeßel (Niedersachsen/Landkreis Rotenburg/Wümme). Am Freitagabend, dem 3. September 1993, gegen 19.45 Uhr, dann die Gewissheit was geschehen ist. Eine Frau findet in Niedersachsen an der Bundesstraße 75 zwischen Bremen und Hamburg, nordöstlich der Ortschaft Scheeßel, an einem Parkplatz in einem Brombeergebüsch den Leichnam eines Kindes. Der Fundort ist etwa 300 km von Essen entfernt. Der kleine Körper weist Stiche und Würgemerkmale auf. Spuren von sexueller Misshandlung stellt der Rechtsmediziner später fest. Schnell wird den Ermittlern in Niedersachsen klar, dass es sich um das 9-Jährige Mädchen aus Essen-Altenessen handelt.

Der Fundort des Leichnams in Niedersachsen
Aus der Vermisstenkommission wird jetzt in Essen eine Mordkommission (MK). Sie wird geleitet vom Kriminalhauptkommissar Klaus Welski. Marijana Krajina ist schon in der Nacht ihres Verschwindens oder tags darauf von ihrem Mörder getötet und missbraucht worden, ergibt das Spurenbild.

 

Ermittlungen

Die Theorie der Fahnder lautet: Der Täter hat Marijana in der Nähe der Altenessener Wohnung oder am Einkaufszentrum Altenessen verschleppt und ist mit ihr in Richtung Norddeutschland gefahren, vermutlich über die Autobahn A1. Die Fahrtzeit bis zum Fundort des Leichnams liegt bei drei bis vier Stunden. Irgendwo auf der Strecke passiert das schreckliche Verbrechen. Der Leichnam wird dann vom Täter in dem Gebüsch auf dem Parkplatz an der B75 abgelegt. Doch bleiben einige Fragen offen: Warum steigt das Kind in das Fahrzeug eines Unbekannten? Oder hat sie doch Vertrauen zu ihm? Kein Mensch hat Marijana nach dem 31. August 1993 mehr gesehen. Ungewöhnlich. Klaus Welski und seine Kollegen gehen jeder kleinsten Spur nach. Trotz intensiver Pressearbeit kommen wenige Hinweise aus der Bevölkerung.

Wurde Marijana auf dem Weg von Essen nach Scheeßel getötet? Foto: Google Map

Hoffnung

Dann keimt neue Hoffnung auf. Nach Tagen meldet sich eine Zeugin bei der Mordkommission. Sie will Marijana am Tage ihres Verschwindens in Begleitung eines Mannes gesehen haben. Dieser Unbekannte soll eine Bundeswehruniform getragen haben, unter einer Schulterklappe klemmte ein bordeauxfarbenes Barett. Ein Phantomfoto wird von Beamten des Landeskriminalamtes (LKA)gefertigt. So sieht der mögliche Mörder aus, ist sich die Hinweisgeberin sicher.

Das Phantomfoto - sieht so der Mörder aus?
Die Frau ist glaubhaft, eine gute Zeugin, so der Leiter der MK. In Niedersachsen gibt es im engeren und weiteren Bereich des Fundortes des Leichnams viele Kasernen. Das Puzzle könnte zusammenpassen. Ist der Mörder ein Bundeswehrsoldat?

Die Beschreibung des mutmaßlichen Täters: etwa 20 bis 22 Jahre alt, etwa 170 bis 175 cm groß, schlank, breite Schultern, kurzes, leicht gelocktes, blondes Haar.

Der Parkplatz und Ablegeort im Hintergrund

Die Essener Mordkommission ermittelt in norddeutschen Kasernen, die Bundeswehr leistet Hilfe und Unterstützung. 1131 Soldaten werden überprüft. Leider ohne den erhofften Erfolg. Der Mörder bleibt unbekannt.

ZDF „Aktenzeichen XY…ungelöst“

Nächste Hoffnung und Möglichkeit: Die Mordkommission wendet sich an das Zweite Deutsche Fernsehen. Eduard Zimmermann berichtet zeitnah in seiner Sendung "Aktenzeichen XY…ungelöst..." über das Verbrechen. Klaus Welski nimmt noch im Studio die ersten der 48 Hinweise entgegen, seine Kollegen warten in Essen auf den entscheidenden Tipp. Viele Anrufe aus ganz Deutschland gehen in Essen ein. Leider ist die "heiße Spur" nicht darunter.

In Altenessen wird das Plakat veröffentlicht

Fazit

Am 12. November 1993 wird die Mordkommission (MK) aufgelöst. Die Bilanz: Die MK besteht zeitweise aus bis zu 25 Beamten und leistet 1800 Überstunden. Sie überprüft 1726 Personen, darunter 1131 Soldaten, 333 Autofahrer (rote Alfa-Romeo mit Essener Kennzeichen und weiße Opel-Omega mit Verdener Kennzeichen). 

Bleibt der Mord an dem Mädchen für immer ungesühnt? Was geschah am 31. August und 1. September 1993? Nur der Mörder könnte eine Antwort geben. 

Autor: Uwe Klein, Erster Polizeihauptkommissar a. D.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen