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Dienstag, 11. August 2015

Lohntütenball im Dirnenwohnheim




Polizistinnen und Polizisten befinden sich auf den Logenplätzen des Lebens. Glauben Sie mir. Mein Vater, Bruder und ich waren Polizisten, mein Sohn ist einer. An Familienfesten gab es immer eine Menge zum Schmunzeln, wenn Geschichten aus dem Polizeileben die Runde machten.  Eine davon ist diese:
Allerdings liegt fast 45 Jahre zurück. Als junger und „fertiger“ Polizist kam ich als Polizeihauptwachtmeister nach der Ausbildung nach Essen, im Alter von nur 18  Jahren. Ich war  Anfang der 70er Jahre zwar noch nicht volljährig – die Volljährigkeit trat erst mit 21 ein - aber schon mit allen Machtbefugnissen des Staates ausgestattet. 
Tatort:  Dirnenwohnheim – so hieß das Bordell damals tatsächlich – an der Stahlstraße. Dort gingen und gehen nach wie vor rund 200 Frauen in 17 Häusern dem ältesten Gewerbe der Welt nach. Los war dort immer etwas, besonders zum Monatsanfang, wenn es Geld gab. Zu Schichtbeginn im Nachtdienst absolvierten wir immer  einen „Stubendurchgang“, so nannten wir Polizisten die Kontrollfahrt durch die Sachgasse.  War hier etwas los, war in der Innenstadt was los. Die  Nacht wurde nicht langweilig.
Einsätze gab es eine Menge in der Stahlstraße, und sie waren bei den Polizisten sehr beliebt. Bis in die 1960er-Jahre existierte hier sogar eine kleine Wache. Meldete sich zum Beispiel die Einsatzleitstelle „Gruga“ mit dem Funkspruch: „Streit in der Stahlstraße, wer steht in der Nähe?“, meldeten sich fast alle Funkstreifen einsatzklar. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Meistens ging es bei den „sittenwidrigen“ Geschäften  – auch so hieß das damals – um Zahlungsstreitigkeiten:  zu teuer, zu schnell, zu lange, nicht wie vereinbart. Unsere Maßnahmen waren immer die gleichen: Personalienaustausch, Hinweis auf den Rechtsweg und fertig. 
Bei dem Einsatz, von dem ich jetzt berichte, war wohl niemand einsatzklar, so dass mein Kollege und ich den Einsatz „Stahlstraße – Streitigkeiten“, übernehmen mussten.
Zu dieser Zeit - zur Erinnerung: wir sind immer noch in den 70er-Jahren - wurde das Gehalt vieler Arbeiter in bar ausbezahlt, in der so genannten Lohntüte.  Da stand der Name drauf, drin waren die Geldscheine. Ein Girokonto brauchte man nicht unbedingt.  Daher auch das geflügelte Wort anfangs des Monats, wenn es Geld gegeben hatte, vom Lohntütenball. So manch einer verprasste nämlich sein Gehalt schon am Abend nach der Auszahlung oder machte mal einen kräftigen Zug durch die Gemeinde.
Zurück zu unserem Einsatz in der Stahlstraße 44. Ein Kunde (Freier) regte sich fürchterlich über den Preis in Höhe von 10 Mark für ein Glas Bier auf, das er am Rande seines eigentlichen Besuches bei der Hauswirtschafterin bestellt hatte. Den „Zehner“ dafür wollte er auf keinen Fall bezahlen und rief die Polizei. Klarer Fall von Zahlungsstreitigkeiten. Die eigentlichen Dienstleistungen, die er in dem Haus in Anspruch genommen hatte, waren offensichtlich in Ordnung gewesen. Denn darüber verlor er uns jungen Polizisten gegenüber kein Wort. Als er merkte, dass wir den Bierpreis auch nicht mindern konnten und ihn auf den Zivilweg hinwiesen, geriet er derart in Rage, dass er den gesamten Inhalt aus seiner Lohntüte herausnahm und der Hure mit den Worten:“ Jetzt kannste alles haben, “ ins Dekolleté stopfte. Das waren immerhin mehrere große Geldscheine gewesen. Die Frau drehte ab, ging weg und wir blieben mit dem Wüterich zurück.
Es vergingen nur wenige Minuten, als er sich über sein Tun im Klaren war. Fast 1.000 Mark hatte auf diese Art und Weise den Besitz gewechselt. Er verlangte jetzt weinerlich von uns die Rückführung seines Geldes.
Die Bewältigung einer solchen Situation samt rechtlicher Beurteilung war nie  Bestandteil meiner Ausbildung gewesen. So schauten wir uns zunächst ratlos an. „Selbst schuld!“, unser spontaner Kommentar. Das Einzige, was uns noch einfiel war der Spruch: „Geschenkt ist geschenkt, weggenommen in die Hölle gekommen!“ Hat der Freier das Geld nun der Frau  geschenkt? Hat sie es unterschlagen? Ein höchst komplizierter Rechtsfall. Wir wussten keine Lösung. Also fuhren wir mit dem Mann zur Wache.
Da gab es ja noch den Wach- und Einsatzleiter und das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). Der Mann saß derweil auf der armen Sünderbank im Wachraum und heulte Rotz und Wasser.
Unser Chef hatte auch keine Lösung parat. Ein Blick ins Gesetzbuch erleichtert die Rechtsfindung, hörte ich oft auf der Polizeischule. Also schaute ich rein ins BGB. Seit dem weiß ich, dass Geschenke rückgängig gemacht werden können.  Also nix mit geschenkt ist geschenkt!
Wir fuhren zurück zur Stahlstraße. Die Hure gab generös knapp 100 Mark ihrem Freier zurück. „Mehr hat er mir nicht in den Ausschnitt gestopft“, war ihr Kommentar. Auch gutes Zureden und Appelle („Er ist doch Ehemann und Familienvater“) nutzten nichts. Die Frau blieb hart. Mehr als einen Hunderter rückte sie nicht raus. Die Folge: Sie bekam eine Anzeige wegen Unterschlagung.
Zurück blieben ein verzweifelter Ehemann und Vater, der in einem kurzen Moment die Kontrolle über sich verlor und zwei junge Polizisten mit einem unguten Gefühl. Nix mit Freund und Helfer. 
Wie der Fall später juristisch durch die Staatsanwaltschaft bewertet wurde, habe ich nie  erfahren. Auch nicht wie der Mann seiner Frau den Verlust seiner Lohntüte erklärte.
Gott sei Dank gibt es heute keine Geldtüten mehr. Allerdings -  mit einer Kreditkarte kann man 45 Jahre später auch ein Menge Unsinn anstellen.
Sex und crime. Es gäbe noch einige Geschichten rund um das älteste Gewerbe der Welt in der Stahlstraße zu erzählen, aber die gehören hier nicht hin. Oder doch? Vielleicht fällt mir ja noch eine ein.
       
Foto: Schlüssellochperspektive – Blick in die Stahlstraße. Die älteste Laufstraße in Deutschland. Hier bieten Frauen seit Anfang des 19. Jahrhunderts ihre Liebesdienste an





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